Von der belagerten Festung zur Durchbrechung der Isolation


Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

In dem Zeitraum 1917 bis 1941, den die Artikel unserer Broschüre »Weiße Flecken« umfassen, befand sich die junge Sowjetunion im Zustand der belagerten Festung und somit in höchster Gefahr, als Staat und Gesellschaftssystem liquidiert zu werden. Wir schilderten die Anstrengungen, die zum Aufbau des Sozialismus und zur Sicherung seiner Existenz in seiner damals möglichen Form unternommen werden mussten, in allen Facetten und auch den unvermeidlichen Widerwärtigkeiten. Das war notwendig, um ein zutreffendes und möglichst umfassendes Bild dieser Schwierigkeiten zu zeichnen. In dem vorliegenden Artikel kommen wir zur Untersuchung einer neuen Phase der sowjetischen Geschichte. Sie umfasst den Existenzkampf gegen den deutsch geführten Faschismus, einen Krieg, der notwendigerweise erst mit der völligen Zerschlagung des Feindes auf dessen eigenem Boden endete. Damit entstand zugleich eine neue geostrategische Situation: Die Sowjetunion befreite sich aus ihrer Isolierung, baute ein eigenes Lager verbündeter Staaten auf, das bald das »sozialistische Lager« genannt wurde, und entwickelte sich zum Gegenspieler der führenden kapitalistischen Weltmacht USA.

Der faschistische Vernichtungskrieg

Der Zweite Weltkrieg hatte seine Ursachen grundsätzlich in den politischen und ökonomischen Schwierigkeiten insbesondere des deutschen Kapitals in der Lage, in die es durch die Niederlage des kaiserlichen Deutschlands von 1918 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis in die frühen dreißiger Jahre geraten war. Die spezifische Form, in der dieser Krieg verlief, gründete in der Ideologie und Herrschaftspraxis der faschistischen Hitlerbewegung, also des Nationalsozialismus. Prägend war für diese die extrem auf die Spitze getriebene rassistische Auffassung vom Existenzkampf der verschiedenen Völker und Rassen, die Vorstellung der unterschiedlichen, biologistisch hergeleiteten Wertigkeit von Menschen und hierin speziell die Einbildung einer »jüdischen Weltverschwörung« und von »slawischen Untermenschen«, die dem Zionismus als willenlose Werkzeuge dienten. In der sozialistischen Oktoberrevolution und der daraus hervorgegangenen bolschewistischen Parteiführung in der Sowjetunion floss diesem ideologischen Gebräu zufolge alles Übel der Welt zusammen.

In der bedrängten Lage, in der sich Kapitalfraktionen der deutschen Industrie – Kohle, Stahl, Chemie – und des Großgrundbesitzes sahen, erschien diese NSDAP als letzter Rettungsanker vor einer drohenden Revolution auch im Westen. Die führenden Eliten der Weimarer Republik kamen im Verlauf der Weltwirtschaftskrise überein, Hitler die Kanzlerschaft zu übertragen und der bereits in den Straßen und in den Reichstagswahlen bedrohlich angewachsenen Bewegung die letzten Schleusen zu öffnen. Mit diesen knappen Bemerkungen müssen wir uns an dieser Stelle begnügen.[1] Sie sollen deutlich machen, dass die Sowjetunion im Fokus der Nazis stand, aufs höchste gefährdet war und einem Existenzkampf entgegen ging. Unabhängig davon, wie KPdSU und Komintern ihrerseits den Faschismus auffassten[2] und ihre Handlungsstrategie ausrichteten, war ihnen die Bedrohung durchaus bewusst.

Bereits am 30. März 1941 hatte Hitler vor 250 Wehrmachtgenerälen den kommenden Krieg als »Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander« und als »Vernichtungskampf« proklamiert. Er forderte die »Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz«. In der Konsequenz wurde nach dem Eindringen in die Sowjetunion der berüchtigte »Kommissarbefehl« erlassen. Danach waren »politische Kommissare grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen«. Eine Erläuterung Himmlers dazu lautete: »Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen.« Die »Bestimmungen über das Kriegsgefangenenwesen« vom 16. Juni 1941 forderten »rücksichtsloses und energisches Durchgreifen bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit, insbesondere gegenüber bolschewistischen Hetzern«. Diese Befehle wurden in der Wehrmacht von der Spitze bis in die untersten Ränge weitergeleitet und befolgt.

Die Zivilbevölkerung wurde in vielfältiger Weise Opfer des NS-Lebensraumprogramms. Die besetzten Gebiete sollten dazu dienen, durch rücksichtslose Requirierung die Wehrmacht mit Nahrungsmitteln und kriegswichtigem Material zu versorgen, also die Besatzungsmacht zu ernähren. Dabei kalkulierte man ein, dass »zweifellos zig Millionen Menschen verhungern« – es waren ja nicht nur Kriegsgegner, sondern »Untermenschen«, deren Siedlungsräume für deutsche Bauern frei gemacht werden sollten. Die »deutsche Volkstumsgrenze« sollte um fast 1000 km nach Osten verschoben werden. So mancher NS-Funktionär träumte von einer neuen Stellung als junkerlicher Großgrundbesitzer mit billigen Arbeitssklaven. Strategische Planungen, Karrierewünsche, kriegswirtschaftliche Überlegungen und rassistische Exzesse verschmolzen miteinander. Schätzungen von Historikern gehen von vier bis sieben Millionen Hungertoten unter insgesamt 26 Millionen sowjetischen Kriegstoten aus.

Der »Große Vaterländische Krieg«

Zentrales Bedürfnis der Sowjetunion in den Verhandlungen, die später zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt führten, war die Gewinnung von Zeit, um das Kriegsgeschehen möglichst lange vom sowjetischen Boden fernzuhalten, Schutzmaßnahmen gegen den zu erwartenden faschistischen Angriff zu treffen und Ressourcen für den Gegenschlag und den Sieg aufzubauen. Dabei stand zunächst die Option im Raum, im Bündnis mit den Westmächten das faschistische Deutschland einzudämmen. Gegen diese sprachen jedoch die Erfahrungen mit der sogenannten Appeasement-Politik, zuletzt dem Münchener Abkommen[3]. Zudem schickten die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs zu den Verhandlungen mit der Sowjetunion über eine Garantieerklärung für den Bestand Polens nur nachrangige Delegationen ohne Mandat. Hier drückte sich der Klassengegensatz zwischen den bürgerlich-kapitalistischen Demokratien des Westens und dem ersten sozialistischen Staat der Weltgeschichte aus. Konkret mussten die Sowjets den Eindruck gewinnen, dass die Westmächte sie allein gegen die Deutschen kämpfen lassen würden, um sie auf diese Weise zu verheizen. Der Verlauf der Verhandlungen ergab sich aus diesen Voraussetzungen. Die Sowjets schlossen den Pakt mit dem schlimmsten aller Feinde ab, weil es nicht anders ging, sie aber unbedingt noch Zeit zur weiteren Vorbereitung von Gegenmaßnahmen brauchten. Dieser Hintergrund, den wir in den »Weißen Flecken« ausführlich geschildert haben, wird in der bürgerlichen Geschichtsschreibung teils unterschlagen, teils in seiner Bedeutung abgewertet und seinem Wahrheitsgehalt verzerrt wiedergegeben.

Die Sowjetunion bereitete sich somit auf eine Auseinandersetzung zwischen feindlichen Staaten vor und traf dementsprechend ihre Maßnahmen. Die Ressourcen, auf die sie zählte, waren nun ganz offen nationalstaatliche. Die europäische Arbeiterbewegung, darunter die vom Faschismus zerschlagene deutsche, kam in dieser Strategie nur noch als nachgeordnete Fußtruppen vor. Zu diesem Zeitpunkt war das eine realistische Widerspiegelung der Lage. Nach allem, was bis dahin geschehen war – von der Novemberrevolution in Deutschland bis hin zum Spanischen Bürgerkrieg –, war die Kraft der Arbeiterbewegung zur Abwehr des Faschismus nicht mehr vorhanden. Es half auch nichts mehr, über die politische und moralische Verantwortung zu streiten. Unter der latenten Kriegsdrohung, die jederzeit akut werden konnte, mussten nun die Machtmittel eingesetzt werden, über die die internationale kommunistische Bewegung noch verfügte.

Diese Mittel waren eben die staatlichen Ressourcen der Sowjetunion. Sie musste als Nationalstaat handeln und auf dieser Ebene Bündnisse schließen, soweit sie möglich waren. Innenpolitisch bedeutete sie ein Heranziehen des großrussischen Nationalismus, teilweise sogar der orthodoxen Kirche, um die Reihen gegen den äußeren Feind zu schließen. Der Existenzkampf der sozialistischen Revolution auf sowjetischem Boden gegen den Faschismus begann mit dem nichterklärten Überfall der deutschen Wehrmacht vom 22. Juni 1941. Er bekam den Titel »Großer Vaterländischer Krieg«. Das war nicht zuletzt das unvermeidliche Eingeständnis, dass 24 Jahre sozialistischer Aufbau nicht genügt hatten (nicht genügen konnten), einen »neuen Menschentyp« in der Sowjetunion umfassend herauszubilden, der bereit war, die sozialistischen Grundlagen um ihrer selbst willen zu verteidigen. Zwar gab es Massen von opferbereiten Arbeitern und Bauern, aber in den rückständigen Verhältnissen Russlands eben auch viele von denjenigen, die aus vielfältigen Gründen in Opposition standen und sich in gegnerische Partisanen- oder gar in SS-Verbände pressen ließen. Dass am Ende die Sowjetunion dennoch siegreich war, ist auch vor diesem Hintergrund eine besondere historische Leistung und erwies die Kraft und Leistungsfähigkeit der neuen Gesellschaft.

Heinrich Brandler stellte hierzu fest: »Nun, Verteidigung der Sowjetunion im vaterländischen Krieg ist auch Verteidigung des Sozialismus, des Staatssozialismus der Sowjetunion.« [4] An diese Bemerkung knüpfte er aber auch seine Kritik an der Stalin’schen Kriegführung, mit deren Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Konsequenzen wir uns weiter unten noch befassen werden.

Zu Beginn des Krieges jedoch stießen die Deutschen weit vor. Sie kamen bis auf 40 km an Moskau heran, schlossen Leningrad für grauenvolle 900 Tage ein (8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944; allein das kostete über eine Million Einwohner der Stadt das Leben) und erreichten im Süden Rostow am Don. Dass die Rote Armee diesen Durchmarsch nicht verhindern konnte, ist in der Geschichtsschreibung meist auf die »Säuberung« der militärischen Führung (Tuchatschewski u. a.) im Frühjahr 1937 zurückgeführt worden. Die neue Kommandostruktur habe sich zeitbedingt nicht konsolidieren, ihre Führungskräfte die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht entwickeln können. Das mag in der Beurteilung durch Militärexperten durchaus richtig sein, trägt jedoch nicht sehr weit. Die politische Seite dieser Entscheidung wird wesentlich bedeutsamer gewesen sein. Gerade wenn ein großer Existenzkampf droht, muss die politische Leitung des Landes sicher sein, dass der militärische Arm sich zuverlässig unterordnet (Weiße Flecken, S. 35f). Die riesigen Anfangsverluste des Krieges an Boden, Material und Menschenleben sind unbestreitbar; so gelang es den Deutschen z. B. schon am ersten Kriegstag, 1200 sowjetische Flugzeuge zu zerstören, die ungetarnt auf den Flugplätzen herumstanden, und sich damit Lufthoheit zu sichern[5]. Am Ende aber stand der Sieg über den angreifenden Faschismus. Bereits die Abwehr des feindlichen Vormarschs vor Moskau, dann die Wende in Stalingrad erwiesen die Leistungsfähigkeit der – überstürzt ins Hinterland verlagerten – Rüstungsindustrie und die Stärke der sowjetischen Armee.

Die Wende von Stalingrad

Im Sommer 1942 befand sich das faschistische Deutschland immer noch militärisch in der besseren Ausgangslage. Die Deutschen und ihre Verbündeten (Italiener, Ungarn, Rumänen, Kroaten) hatten 250.000 Soldaten, 740 Panzer, 1200 Flugzeuge, die Sowjets jeweils 187.000, 360, 330. Die Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung war nach schweren Verlusten an Menschen, Material und Territorium niedergeschlagen, sie litt unter deutschem Terror und Bombenangriffen. Auch im Ausland setzte kaum noch jemand auf einen sowjetischen Sieg. »Gegen einen Feind, dessen Industrie viermal größer war, schienen die sowjetischen Aussichten tatsächlich trostlos.«[6] Hinzu kam, dass auch die Gegenoffensiven des Jahres 1942 zunächst in Niederlagen mündeten. Die Nazis und ihre Generale rechneten schon damit, die Eroberung zumindest Zentralrusslands mit Moskau und Leningrad im Sommer 1942 zu Ende zu bringen. Doch es gab noch ein zweites, ebenso wichtiges Ziel: den Vorstoß nach Südosten an die russischen Erdölfelder und andere kriegswichtige Bodenschätze und damit nach Stalingrad. Am 5. April 1942 ging hierzu die Weisung Nr. 41 aus Hitlers Hauptquartier. Erneut gingen die deutschen Truppen sehr schnell vor.

Die Folgen waren Panik in der Bevölkerung und Massenflucht aus der Roten Armee. Die erste Aufgabe der kommunistischen Führung war also die Stabilisierung der Disziplin. Stalin erließ den Befehl Nr. 227: »Keinen Schritt zurück!« Härteste Strafen bis hin zur sofortigen Exekution wurden angedroht und vollzogen. Es wurden Strafbataillone eingerichtet, in die politisch und militärisch Unzuverlässige – »Panikmacher« und »Feiglinge« – eingewiesen wurden. Sie wurden als »Kanonenfutter« in gefährlichen Lagen in das Mündungsfeuer der Deutschen getrieben. Um diesen Zwang ausüben zu können, wurden teils NKWD-Truppen (NKWD = Innenministerium mit Geheimdienst-, Polizei- und Militäraufgaben), teils besonders aufgestellte »Abriegelungseinheiten« eingesetzt, die die regulären Soldaten an der Flucht vom Frontgeschehen hindern sollten. Insgesamt sollen 442.000 Soldaten in Strafbataillonen gedient haben, weitere 436.000 zu Haftstrafen, 158.000 zum Erschießungstod verurteilt worden sein[7]. Dies ist in Relation zur Gesamtzahl von ca. 3 Mio. Rotarmisten zu Beginn des Krieges zu sehen. Selbstverständlich trüben solche Tatsachen die offizielle Heldenpropaganda, die wie überall in kriegführenden Staaten auch in der stalinistischen Sowjetunion üblich war. Vernichtend für die Betroffenen war auch, dass Kriegsgefangene oft sehr schnell und nachhaltig unter den Generalverdacht der Kooperation mit dem Feind gestellt wurden.

Man muss sich aber vergegenwärtigen, dass wir hier nicht über das normale Alltagsleben, sondern über den Krieg schreiben. In solchen existenziellen Situationen ist die wichtigste Aufgabe immer die, den Krieg und seine Ursache, in diesem Fall den aus Deutschland eingedrungenen Faschismus, zu beenden bzw. beseitigen. Dennoch wäre es verfehlt, davon auszugehen, dass quasi jeder Rotarmist »einen Gewehrlauf im Rücken« hatte; die Bedeutung des Befehls 227 ist übertrieben worden, nicht zuletzt, um die Opferbereitschaft und den erbitterten Widerstand zahlloser sowjetischer Männer und Frauen zu diffamieren. Doch bis zur Wende von Stalingrad war die Lage prekär, und deshalb waren solche Maßnahmen erforderlich. Am 29. Oktober 1942 wurden sie durch einen neuen Befehl wieder aufgehoben.

Von August an wurden 90 % von Stalingrad durch die deutsche 6. Armee erobert. Aber ab 22. November wurde diese durch neu herangeführte sowjetische Truppen eingekesselt, am 31. Januar 1943 erfolgten Kapitulation und Gefangennahme der deutschen Soldaten. Im Gesamtverlauf wurden auf deutscher Seite 850.000, auf sowjetischer 1.700.000 Mann eingesetzt. Die Verluste waren ungeheuer: auf sowjetischer Seite 500.000 Tote, auf deutscher 147.000 Tote und 91.000 Gefangene. Die Wirkung der Befreiung von Stalingrad war durchschlagend: Die Deutschen hatten ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren, die Menschen in der Sowjetunion erlangten ihre Zuversicht zurück, und die bisher trotz der eigenen Niederlagen untätigen Westmächte mussten ihre Kriegsstrategie überdenken. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg fasste seine Gefühle in die Worte: »Vorher hatte man an den Sieg glauben müssen, trotz allem was dagegen sprach, nunmehr blieb für Zweifel kein Platz. Der Sieg war sicher.«[8]

Der gemischte Krieg

Der Erste Weltkrieg war eindeutig ein imperialistischer, nämlich zwischen zwei hochgerüsteten Bündnissen jeweils kapitalistischer Staaten geführter Krieg; der Zweite war eine Auseinandersetzung, für die der Begriff des gemischten Krieges[9] angebracht ist. Der lange Vorlauf (»Blitzkriege« in West-, Nord- und Südosteuropa) bis zum Sommer 1941 war zwar noch ganz traditionell, doch mit dem Überfall auf die Sowjetunion zeigte sich ganz offen eine neue Lage in der Weltpolitik. Von da an ergab sich ein Bündnis der westlichen kapitalistischen Demokratien mit dem ersten sozialistischen Staat gegen die faschistischen Achsenmächte, das bis zu deren Niederlage reichte. Die Wende von Stalingrad sorgte dafür, dass in diesem strategischen Zweckbündnis mit imperialistischen Mächten die Sowjetunion deutlich mehr Anerkennung und Unterstützung erfuhr. Die Niederschlagung des Faschismus besaß zunächst Vorrang, und dafür wurde die Rote Armee als stärkste Landmacht gebraucht. Andererseits standen in der militärischen Koalition die Klassengegensätze von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung gegeneinander. Aus Sicht der Westmächte, insbesondere Großbritanniens, sollte auf keinen Fall die Rote Armee – und mit ihr die Gefahr der revolutionären Umwälzung – freien und kampflosen Zugang nach Mitteleuropa bekommen. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr machten sich diese Gegensätze geltend.

Wirksam wurde das Bündnis zunächst in der Aufnahme Moskaus in das Leih- und Pachtgesetz (Lend-Lease Act) vom 18. Februar 1941, mit dem die USA verbündeten Nationen Waffen liefern konnten. Mehr als vierzig Staaten profitierten davon, vor allem Großbritannien und Commonwealth-Länder, Frankreich und (ab August 1941) die Sowjetunion. Insgesamt gaben die USA für dieses Programm 48.395,4 Mio. $ im damaligen Nennwert aus.[10] Diese Geschäfte brachten dem amerikanischen Kapital riesige Profite auf Kosten der Steuerzahler ein und halfen ihm eine Überproduktionskrise ersparen, die nach dem Krieg tatsächlich eintrat.

Strategische Absprachen wurden zunächst kaum getroffen. Erst mit der sich abzeichnenden Niederlage des Nazi-Reichs kam es zu den Konferenzen der »Großen Drei« (Roosevelt, Churchill, Stalin) von Teheran (Dezember 1943), Jalta (Februar 1945) und Potsdam (August 1945). Die Verhandlungsstrategien, insbesondere um die »2. Front«, die Behandlung des geschlagenen und vom Faschismus zu befreienden Deutschlands, die Aufteilung der Interessensphären in Europa und die Konstruktion der Vereinten Nationen (UN), verwiesen bereits auf die heraufziehende Blockbildung des »Kalten Krieges«. Gerade in der Frage der »2. Front« spielten Aufmarschüberlegungen ab Mitte 1943 eine größere Rolle als die abzusehende endgültige Niederschlagung des faschistischen Feindes. Es ging um das begreifliche sowjetische Verlangen einer Invasion der Westalliierten in Nordfrankreich zur Entlastung der Roten Armee.

Die Sowjets hatten eine solche »Westfront« schon seit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 gefordert, doch war Großbritannien allein, unmittelbar nach seiner militärischen Niederlage in Nordfrankreich, dazu nicht in der Lage, und die USA waren bis Ende 1941 politisch noch nicht bereit. Der zweite wesentliche Grund war aus britischer Sicht die Sicherung des Mittelmeers und des Suezkanals im Interesse des British Empire. Drittens war von strategischem Gewicht, dass London zwar mit Moskau gegen das Nazireich verbündet war, allerdings die Sowjetunion als sozialistische Macht nicht durch diesen Krieg stärken und gewissermaßen nach Mitteleuropa hineinziehen wollte. Aus all diesen Gründen versuchte die britische Regierung, eine »Zweite Front« im Westen des Kontinents möglichst lange hinauszuschieben. Für die Sowjetunion bedeutete die Verzögerung eine entsprechende Vermehrung ihrer Opfer und Kriegslasten.

So kam es zunächst (Dezember 1940) zu einer »Südfront«, um den »weichen Unterleib« des faschistischen Machtbereichs in Europa anzugreifen. Nach der Zerschlagung des deutsch-italienischen Afrikakorps (Mai 1943) besetzten Amerikaner und Briten in raschem Zugriff Sizilien. Gleichzeitig drängte Churchill zum Eingreifen auf dem Balkan, um der Sowjetunion dort möglichst viel Raum streitig zu machen (Griechenland) und strategisch auch die griechischen und jugoslawischen Partisanen unter Kontrolle zu bekommen. Diese Differenzen unter den Alliierten führten schließlich dazu, dass in der Aufteilung Europas in Interessensphären Griechenland als britische Einflusszone festgelegt wurde (endgültig im Moskauer Abkommen von Oktober 1944). Ab Dezember 1944, nach dem Abzug der geschlagenen Deutschen, wurde das Land durch britische Truppen besetzt. Damit läuteten sie für das geschundene Land eine weitere blutige Phase ein, den Bürgerkrieg, der bis 1949 dauerte, und in dem schließlich US-Amerikaner anstelle der Briten die Truppen der griechischen Konterrevolution unterstützten. Europaweit wurden kommunistische, sozialistische und antifaschistische Befreiungsorganisationen die Opfer strategischer Absprachen der Großmächte. Es ging darum, wie Stalin realistisch bemerkte, dass der jeweilige Sieger in seinem Einflussgebiet die gesellschaftliche Verfassung und das regierende Personal bestimmte.

Die Kriegslasten

Die sowjetische Industrie war von dem deutschen Vormarsch 1941/42 schwer getroffen. Die Verlegung kriegswichtiger Industrieanlagen an den Ural verlief nicht reibungslos. So gab es massive Produktionseinbrüche. Der Tiefpunkt in den Bereichen der Industrieproduktion, der Landwirtschaft, des Transports, des Handels lag im Jahr 1942, eine spürbare Erholung setzte 1943 ein, gegen Kriegsende erreichte zumindest die Industrie wieder den Vorkriegsstand. Die bemerkenswerte Ausnahme in der Gesamtentwicklung bildete die Rüstungsindustrie, die als einzige Branche von Kriegsbeginn an weit mehr als 100 % der Vorkriegszeit produzierte, in die also offenbar vorrangig soviel Ressourcen wie möglich geleitet wurden. Auch Metallverarbeitung und Maschinenbau, die in großem Maße für die Rüstung arbeiteten, zogen merklich an.

Wenn also von interessierter Seite darauf hingewiesen wird, dass die Sowjetunion westliche Hilfe dringend nötig hatte, so trifft dies für das erste Kriegsjahr zu, in den folgenden Jahren stand aber immer mehr Eigenproduktion zur Verfügung. Umgekehrt brauchten die Westmächte ihren östlichen Bündnispartner, der immer noch die Hauptlast der Kriegsanstrengungen und -opfer zu tragen hatte, nicht zuletzt, weil die rassistische Ideologie der Nazis den Bolschewismus und den »slawischen Untermenschen« zum Hauptfeind erklärte.

Entwicklung ökonomischer Kennziffern (in % zu 1940)
1941 1942 1943 1944 1945
Nationaleinkommen 92 66 74 88 83
Gesamtindustrieprod. 98 77 90 104 92
Rüstungsindustrie 140 186 224 251 173
Landwirtschaftliche Bruttoproduktion 62 38 37 54 60
Güterumschlag aller Transportzweige 92 53 61 71 77
Kapitalinvestitionen 86 53 53 72 89
Zahl Arbeiter/Angest. 88 59 62 76 87
Umfang d. Einzelhand. 84 34 32 37 45
Quelle: Hildermeier, a. a. O. S. 636

Mit der zunehmenden Offensive der Roten Armee und der immer rascher verlaufenden Zurückdrängung der deutschen Wehrmacht aus dem Sowjetgebiet, insbesondere nach der Schlacht bei Kursk im Juli 1943, setzten die Deutschen eine Strategie der »verbrannten Erde« ein, die eine doppelte Zielsetzung hatte: dem sowjetischen Militär Ressourcen zu entziehen und der sowjetischen Bevölkerung das Überleben so schwer wie möglich zu machen. In vielen Ländern haben die Nazis in einem brutalen, bewusst auch gegen die Zivilbevölkerung gezielten Vorgehen ungeheure Verluste an Menschenleben und materiellen Gütern verursacht (wie in Griechenland, Frankreich, zuletzt auch Italien), aber gerade gegen die slawischen Menschen Osteuropas war das Morden und Brandschatzen als bewusster Rassenkrieg angelegt wie sonst wohl nur gegen die jüdische Bevölkerung.

Der Blutzoll der sowjetischen Bevölkerung war ungeheuer und in der Geschichte wohl beispiellos. Allein für die Armee kommt Hildermeier[11] auf neun Millionen Tote auf dem Schlachtfeld und an den Folgen schwerer Verletzungen Gestorbene. Hinzu kamen 18 Mio. Invaliden, Verletzte und Erkrankte. Die Gesamtzahl der Kriegstoten unter Einschluss der Zivilbevölkerung setzt auch er mit 26 Mio. an. Rechnet er den kriegsbedingten Geburtenausfall dazu, so kommt er auf eine Schätzung von insgesamt 45 – 48 Mio. Menschen, die vorzeitig starben oder nicht geboren wurden. Allein 2,5 Mio. Personen wurden als Juden/Jüdinnen von den SS-Einsatzkommandos ermordet. Andere Kriegseinwirkungen waren Krankheit, Hunger, Kälte und Erschöpfung.

Kriegsverbrechen

Kriegsverbrechen anzuklagen, ist eine wichtige Sache, um die schlimmsten Gräueltaten zu verhindern oder wenigstens zu bestrafen. Zur Frage eines »humanen« Kriegsrechts ist aber doch eindeutig anzumerken, dass der Krieg an sich eine extrem inhumane Angelegenheit ist. Im Krieg sind Mord und Zerstörung Ziele von Aktionen, nicht »Kollateralschäden«. Krieg und Kriegsverbrechen sind nicht zu trennen, letztere zu bekämpfen erfordert also, Kriege an sich zu verhindern, dieses wiederum, die Kriegsursachen aufzudecken. Im Zweiten Weltkrieg waren das eindeutig die Verwertungsschwierigkeiten des deutschen Kapitals und die Aggressivität des deutschen Faschismus. Die Sowjetunion befand sich in der Position, sich verteidigen zu müssen. Über die Verbrechen der Nazis im Zweiten Weltkrieg, auf sowjetischem Gebiet insbesondere, und den nicht direkt militärisch, sondern rassistisch bestimmten Völkermord besteht keine Unklarheit.

Aber es geht in diesem Artikel um die Geschichte der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Daher muss auch die Tatsache angesprochen werden, dass es im Rahmen des eben Dargelegten unvermeidlich auch zu sowjetischen Kriegsverbrechen kam. Wir beschäftigen uns hier nicht mit den Ereignissen, die den Einmarsch der Roten Armee in deutsches Gebiet begleiteten – nach den Massenmorden und systematischen Verwüstungen, der »verbrannten Erde«, die die deutschen Invasionstruppen in sowjetischem Gebiet – Belarus, Ukraine und europäischem Teil Russlands – zuvor angerichtet hatten, verbietet sich jede Aufrechnung. Wir greifen hier vielmehr beispielhaft zwei zwischen Polen und der Sowjetunion strittige Komplexe heraus, mit denen damals und in der Zeit des Kalten Krieges Politik gemacht wurde und die unterschiedlich zu erklären sind.

Der eine ist das Massaker in Katyn. Dort wurden zwischen dem 3. April und dem 11. Mai 1940 ca. 4.400 gefangene Polen, größtenteils Offiziere, kaltblütig erschossen. Diese Tat gehörte zu einer Reihe von Massenmorden an 22.000 bis 25.000 Berufs- oder Reserveoffizieren, Polizisten und anderen Staatsbürgern Polens, darunter vielen Intellektuellen. Die Annahme, es handele sich hier darum, die Führungselite des damaligen Polens auszuschalten, liegt auf der Hand. War das Motiv ein rassistisches oder ging es um die Beseitigung der Gegner einer künftigen sozialistischen Umgestaltung Polens? War die Tat also eher den Nazis oder den Bolschewiki zuzuordnen? Die jahrzehntelange Auseinandersetzung, die auf allen Seiten von politischer Instrumentalisierung bestimmt war, fand ihren Abschluss darin, dass die sowjetische Führung unter Gorbatschow im Frühjahr 1990 die Archive öffnete und öffentlich die Verantwortung der Stalin-Führung anerkannte.

Der zweite Komplex ist der Warschauer Aufstand gegen die Nazi-Besatzungsmacht im Herbst 1944. Die sowjetischen Truppen standen an der Weichsel, griffen aber nicht ein. Ging es darum, die polnische »Heimatarmee«, das Werkzeug der bürgerlichen polnischen Exilregierung, den Nazis ans Messer zu liefern, um die »Drecksarbeit« von ihnen erledigen zu lassen, oder wäre die Auseinanderziehung der Front für die Rote Armee ein zu großes Risiko gewesen, das sie nicht ausgerechnet für die mit ihnen tief verfeindeten, bürgerlich gesinnten polnischen Partisanen eingehen konnte? Der britische bürgerliche Historiker Overy, der als Experte des deutsch-sowjetischen Krieges gilt, erkennt hier eindeutig die zweite Deutung als die richtige an. Unzweifelhaft kam die Niederlage der »Heimatarmee« den Absichten Stalins entgegen, aber so oder so hätte er in dieser Lage nichts ohne eigenes Risiko tun können. Zudem, so Overy, war der Warschauer Aufstand von der bürgerlichen polnischen Führung gar nicht dazu gedacht, den sowjetischen Truppen bei der Eroberung der Stadt zu helfen, sondern im Gegenteil ihnen zuvorzukommen.[12] Die Exilregierung selbst hatte kein Interesse an einer Zusammenarbeit. Die Systemfrage des »Kalten Krieges« warf hier schon einen Schatten voraus.

Kritik des »vaterländischen« Krieges

Eine Belastung der sowjetischen Kriegsführung ergab sich auch daraus, dass es im Lande selbst immer noch Gegner der sozialistischen Gesellschaftsform und der kommunistischen Führung gab. Das war in der Geschichte der jungen Sowjetunion nach der Periode der Bürger- und Interventionskriege nichts Neues. Ab 1941 handelte es sich um Kräfte, die die Rückkehr kapitalistischer Verhältnisse und privaten Grundbesitzes, teils um solche, die Nationalstaaten nichtrussischer Volksgruppen (Baltikum, Ukraine, Kaukasus) zu schaffen hofften. Ihr Vertrauen auf die Deutschen in dieser Hinsicht war aussichtslos, weil solche Projekte den Zielen des »Lebensraum«-Programms der Nazis völlig widersprachen; die wollten den Boden für deutsche Siedler und Funktionärskader besetzen. Doch Kollaboration ist längst nicht immer eine Sache der politischen Überzeugung, sondern auch des persönlichen Opportunismus und des Verrats. Daneben gab es Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter, die unter erbärmlichen Bedingungen ausgebeutet wurden. Die militärischen Befehlshaber der deutschen Wehrmacht vor Ort erkannten freilich, dass sie auf ein umfassendes Maß an Kollaboration angewiesen waren, weil für die Länge der Front nicht genügend deutsche Arbeitskräfte bereit standen. Doch die Rassenideologie der Nazis engte ihren Spielraum sehr viel stärker ein, als es nach militärischer Zweckmäßigkeit geboten war.

Auch kämpfende Einheiten wurden aus kollaborationsbereiten Teilen der örtlichen Bevölkerung rekrutiert. Hierbei handelte es sich in erster Linie um nichtrussische Nationalitäten. Im Verlauf des Krieges wurden sie in größeren Einheiten (Divisionen) zusammengefasst, die aus der Ukraine, Galizien, Turkestan, den Gebieten der Kosaken und dem Baltikum stammten. Insgesamt sollen ca. 1 Mio. ehemalige Sowjetsoldaten auf der Seite der Deutschen gekämpft haben – die weitaus meisten weniger für die Nazis als aus Verzweiflung, um dem Kriegsgefangenenlager, dem Hungertod, der Zwangsarbeit und anderem Elend zu entgehen. Auch Antikommunisten waren darunter. In diesem Sinne eine russische sogenannte Befreiungsarmee gegen Stalins Regime war die Wlassow-Armee. Der Gründer war ein ehemaliger Sowjet-Offizier, der in der Kriegsgefangenschaft umgedreht wurde und sich den Nazis anbot. Hitler freilich lehnte eine starke russische »Befreiungsarmee« ab, weil sie seinem Unterwerfungskonzept widersprach. Deshalb bekam Wlassow nur zwei schwache Divisionen zugeteilt. Am Ende des Krieges versuchte er sich zu den Truppen der USA durchzuschlagen, wurde jedoch von der Roten Armee aufgegriffen und im August 1945 hingerichtet.

Eine ähnliche Rolle spielten in der Ukraine die Verbände dortiger Antikommunisten und Faschisten wie die mit dem Namen Stepan Bandera verbundene Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und ihr militärischer Arm, die Ukrainische Aufstandsarmee, die nach verschiedenen Schätzungen 30.000 bis 200.000 Mann umfasste. Andere Einheiten in der Ukraine waren das Bataillon »Nachtigall« und die 14. Waffen-Grenadier-Division bei der SS (galizische SS-Division Nr. 1), in der auch sogenannte »Volksdeutsche« dienten. Die ukrainischen antikommunistischen Verbände kämpften aus »nationalen« Gründen gleichzeitig gegen die Rote Armee und die bürgerliche polnische Heimatarmee und beteiligten sich an Massakern gegen die jüdische Bevölkerung. In der Ukraine und im Baltikum gab es Umtriebe dieser Partisanengruppen bis in die fünfziger Jahre hinein.

An dieser Stelle greifen wir die oben angesprochene Kritik von Heinrich Brandler am nationalen Verständnis des Krieges durch die Sowjetführung wieder auf. Er beschreibt, wie »alles von langer Hand für den vaterländischen, nicht für einen revolutionären Krieg vorbereitet« worden war. Stalin habe in einer Rede am 7. Februar die »großen Vorväter«, »Heerführer des Zarentums« und »waschechte Reaktionäre« als Vorbilder gepriesen. In der damaligen Zeit und den unmittelbaren Auseinandersetzungen, aus den daraus resultierenden Enttäuschungen und ohne unser heutiges Wissen vom Fortgang der Entwicklung, also auch der relativen Schwäche der Grundlagen des Sozialismus in der jungen Sowjetunion ist diese scharf formulierte Feststellung verständlich.

24 Jahre sozialistischer Aufbau hatten nicht genügt, um das zu schaffen, was Generationen von Marxisten und sozialistischen Aktivisten als unbedingt notwendiges Ziel vor Augen hatten: nämlich den Typus eines »neuen Menschen«, der zu der sozialistischen Vergesellschaftung passt, sie vorantreibt und verteidigt. Stalin und seine verantwortlichen Mitstreiter waren sich dessen bewusst. Aber angesichts der drohenden Invasion musste die Bevölkerung gegen den faschistischen Feind geschlossen zusammenstehen. Deshalb setzten sie auf die Verbindung des Neuen mit dem Alten und propagierten den »Sowjetpatriotismus«.

Brandler bezeichnet dies als Verknüpfung des Sowjetsozialismus mit nationaler Beschränktheit. Er hat recht, wenn er davor warnt, dies mit Nationalismus in westlichen Staaten gleichzusetzen, der der Verteidigung kapitalistischer Verhältnisse dient. Darüber muss aber auch Klarheit herrschen. Sowjetpatriotismus hieß in diesem Sinne, dass Russland in der Welt eine besondere Rolle zu spielen hatte, die nicht auf der schieren Größe des Landes beruhte, sondern dem Aufbau des Sozialismus in dieser Dimension und dem Vorbild für diejenigen, die den Versuch ebenfalls wagen. Die Zusammenarbeit mit den imperialistischen Westmächten in der Anti-Hitler-Koalition war eine historische Notwendigkeit, die unmittelbar danach, teilweise schon während dieser Zeit von der neuen Stufe des Klassen- und Systemgegensatzes abgelöst wurde.

Thalheimer schrieb hierzu als Quintessenz der ungleichen Anti-Hitler-Koalition: »Eine gemeinsame imperialistische Front gegen die Sowjetunion kam nicht zustande. Dafür musste die Sowjetunion einen hohen Preis bezahlen. Der Preis war der Verzicht darauf, den Krieg als revolutionären zu führen. Das schloss vor allem auch ein den Verzicht der Sowjetunion auf die Revolutionierung Deutschlands während des Krieges. Die sozialistische Revolution in Deutschland war das Hauptopfer der Koalition eines sozialistischen Staates mit zwei imperialistischen Weltmächten. Dies war der Preis für die Erhaltung der Aufspaltung des imperialistischen Gesamtlagers während des ganzen Kriegsverlaufs, ohne die der Sowjetstaat nicht hätte überleben können.«[13] Allerdings hatte die Sowjetunion angesichts der realen Entwicklungen in Mittel- und Westeuropa schon seit den späten dreißiger Jahren nicht mehr auf die selbständige Ausweitung der proletarischen Revolution gesetzt.

Die internationale Lage nach Kriegsende

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihm bis zu seinem Tode (1948) blieben, schrieb Thalheimer zwei wichtige Broschüren: „Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem 2. Weltkrieg“ und „Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion“(A). In der ersten beschrieb er die Veränderung der außenpolitischen Gesamtlage: Vor dem Krieg gab es zwei Lager imperialistischer Mächte – das der in der politischen Verteidigung befindlichen („friedlichen“) Westmächte und das der im Angriff befindlichen („aggressiven“) faschistischen Achsenmächte; dazu kamen die Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat sowie die Halb- und Vollkolonien. Nach dem Krieg gab es das relativ einheitliche Lager der imperialistischen Siegermächte (dieses wurde durch die Vormachtstellung der USA und das Interesse an der Abwehr der sozialistischen Revolution zusammengezwungen) und dem gegenüber das von der Sowjetunion geführte neue sozialistische Lager – die Isolation der „belagerten Festung“ war also endgültig aufgebrochen; dazu kamen damals immer noch die Halb- und Vollkolonien als „(wenn auch rebellische) Unterwelt der Weltpolitik„.

Die zweite wichtige in der Broschüre behandelte Frage ist die, ob „ein dauernder Friede bei der Fortdauer kapitalistischer Verhältnisse möglich ist„. Dies ist zu verneinen. Thalheimers grundsätzliche theoretische Begründung läuft auf zwei Aspekte hinaus. Einerseits: „(I)m Gegensatz zum Ergebnis des Ersten Weltkriegs ist jetzt den innerimperialistischen Gegensätzen die Spitze abgebrochen worden.“ Andererseits: „Dieser (imperialistische) Ausdehnungsdrang kann sich … nur nach außen wenden: gegen den sozialistischen Sektor, die Sowjetunion und ihren Machtbereich.“ Das war in der Zeit des „Kalten Krieges“. Wir erleben in unseren Zeiten nachhaltig, dass nach dem Untergang des um die Sowjetunion gescharten sozialistischen Lagers von der versprochenen „Friedensdividende“ keine Rede sein kann.

Der dritte zentrale Punkt betrifft den gesellschaftlichen Charakter der Sowjetunion: Hierüber lässt er sich ausführlich in dem Kapitel „Gibt es Sowjetimperialismus?“ aus. Imperialismus ist Eroberungspolitik, die nach der Lenin’schen Erklärung der Unterstützung und Realisierung von Kapitalexport dient. Er führt aus: „Es wäre gewiss keine ausreichende Antwort, dass es in der Sowjetunion kein privates Kapital mehr gibt. Es könnte das staatliche Kapital sein, das Anlage im Ausland sucht, weil es im eigenen Land nicht anwendbar ist. Aber die Tatsachen sagen bekanntlich das gerade Gegenteil. Die Sowjetunion hat nicht nur keinen Kapitalüberschuss, den sie ausführen müsste, sie selbst hat einen riesigen Bedarf an Kapitaleinfuhr. (S. 18)“ Die Machtpolitik der Sowjetunion dient vielmehr ihrer Selbsterhaltung und dem Schutz ihres Lagers. „Alle Klagen oder Anklagen gegen Machtpolitik sind gegenstandslos: Es gibt keine andere als Machtpolitik, es hat nie eine andere gegeben, solange nicht die sozialistische Gesellschaftsform zur Weltform geworden ist (S. 23).

Die zweite Broschüre äußert sich zur Einschätzung der Sowjetunion noch ausführlicher. Leider ist sie unvollendet geblieben. Die Abschnitte zur konkreten Ereignisgeschichte der Oktoberrevolution, der Lenin’schen und der Stalin’schen Periode sowie der Revolution im Westen konnte er nicht mehr schreiben. Der erste Teil dagegen zu den eigentlichen (theoretischen) Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion beschäftigt sich anhand vieler Marx- und Engels-Zitate mit der materialistischen und dialektischen Methode, ob und wie eine Gesellschaft als sozialistisch einzustufen ist. Hierbei legt er besonderen Wert darauf, dass nicht die subjektiven Wünsche und Vorstellungen, sondern die gegebenen Voraussetzungen und vorgefundenen Bedingungen den Weg aus dem Kapitalismus in den Sozialismus bestimmen. Nicht zufällig steht hier das berühmte Zitat aus der „Deutschen Ideologie“: „Der Kommunismus ist nicht ein Zustand, der hergestellt werden muss, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzigen Voraussetzung. (S. 12)“ Wir empfehlen diese Broschüren – auch und gerade mit ihren zeitgebundenen Bezügen – zur vertiefenden Lektüre.

A) Alle hier genannten Broschüren von Thalheimer und Brandler sind von unserer Internetseite zum Download abrufbar.

Die Lage nach Kriegsende

Zur inneren Lage der Sowjetunion nach dem Ende des Krieges schreibt Brandler: »Der Aufbau der sozialistischen Wirtschaft bedeutet nicht nur, dass die durch die kapitalistische Entwicklung vergesellschaftete Produktion eine gesellschaftliche (staatssozialistische) Leitung erhält, das Proletariat kapitalistische Großbetriebe übernimmt und im gesellschaftlichen Interesse leitet, sondern sie schafft sie erst selbst. Infolge der kulturellen Rückständigkeit Russlands entsteht in dieser Periode der Bürokratismus, d. h. die Tendenz zur Beseitigung der Kontrolle der Massen über ihre leitenden Funktionäre, zur Selbstherrlichkeit des Apparats, was dem Wesen der proletarischen Diktatur widerspricht. …

Die Ursache dieses Widerspruchs liegt in der Tatsache, dass die Arbeiterklasse nach Eroberung der politischen Macht sich erst die Qualifikation zur Führung des Staates und der Wirtschaft aneignen muss. …

Wir haben die Entwicklung und die Formen dieses Widerspruches während der drei Perioden bis zum zweiten Weltkrieg (Kriegskommunismus, NEP und Industrialisierung/Kollektivierung, Anm. d. Red.) aufgezeigt. Wir fanden, dass eine 1950 33,5 Millionen Menschen zählende moderne Industriearbeiter- und Angestelltenschaft und Dutzende Millionen Kollektivbauern geschaffen worden sind, die alle nicht nur lesen und schreiben können, sondern auch technische Qualifikationen, Selbstverwaltung im Kolchos gelernt und ihr kulturelles Niveau weit über den barbarischen Ausgangspunkt gehoben haben. Das sind Qualifikationen, die 1917 bis 1928 fehlten, aber heute heran gebildet sind. Damit verringert sich nicht nur die Notwendigkeit der bürokratischen Ausübung der Diktatur des Proletariats, sie wird zu einem Hemmnis der Entwicklung.«[14]

Hier ist also etwas angesprochen, das uns in späteren Artikeln beschäftigen wird: der Widerspruch zwischen den Grenzen des bürokratischen Systems und den Ansprüchen einer weiterentwickelten Arbeiterklasse. Hinzuzufügen wären noch die Notwendigkeiten der politischen und militärischen Selbstbehauptung im neu aufgekommenen Systemgegensatz zwischen dem von der Sowjetunion geführten sozialistischen Lager und dem kapitalistischen Block unter den USA. Diese Situation führte unausweichlich zum Abzug von Ressourcen für den gesellschaftlichen Aufbau.

Von der belagerten Festung zur Durchbrechung der Isolation und Weltmachtstellung des führenden sozialistischen Landes, darüber hinaus die Stärkung der Arbeiterbewegung und der antifaschistischen Linken – das war das epochale Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, wie wir es hier beschrieben haben. Wenn der Erste Weltkrieg der bürgerlichen Herrschaftsform zum endgültigen Durchbruch verholfen und ihre Antithese, die sozialistische Oktoberrevolution, geboren hatte, so setzte der Zweite Weltkrieg die soziale Frage in bis dahin nicht gekannter Breite und Tiefe (sozialistische Umwälzung im Osten, staatliche Sozialpolitik im Westen) und den Antifaschismus (Wiederherstellung, Verteidigung und Ausbau demokratischer Rechte) auf die Tagesordnung. Die Resultate davon waren und sind abhängig von Klassenkämpfen und politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

12.7.2017


 

[1] Zu einer Auseinandersetzung mit Faschismustheorie – wir beziehen uns bekanntlich auf August Thalheimer – verweisen wir auf andere Materialien, z. B. Broschüren, die auf unserer Internetseite angeboten werden, insbesondere »Der Faschismus in Deutschland, Analysen und Berichte der KPD-Opposition 1928 bis 1933 (aus »Gegen den Strom«), herausgegeben und eingeleitet von der Gruppe Arbeiterpolitik, Frankfurt/M. 1973).

[2] Hier sei an die Dimitroff-Formel erinnert, der zufolge der Faschismus die Diktatur des Monopolkapitals sei; sie bestreitet zwar nicht die zwingend notwendige Bedeutung der faschistischen, überwiegend aus von sozialem Abstieg bedrohtem Kleinbürgertum rekrutierten Bewegung als Massenbasis zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung, verkennt aber deren Eigencharakter und die Verselbständigung der Exekutivgewalt als zentrale Merkmale der faschistischen Machtausübung im allgemeinen Klasseninteresse des Kapitals.

[3] Im Münchener Abkommen hatten die Westmächte Hitler die Annexion des Sudetenlandes zugestanden, vgl. Weiße Flecken S. 54 ff.

[4] Heinrich Brandler, Die Sowjetunion und die sozialistische Revolution, 1950, zit. nach der Ausgabe von 1982, S. 74

[5] Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991, München 1998, S. 603

[6] Richard Overy, Russlands Krieg 1941 – 1945, Hamburg 2003 (englische Originalausgabe 1998), S. 243f.

[7] Overy, a. a. O., S. 250

[8] Overy, a. a. O., S. 285

[9] »Gemischter Krieg« bedeutete das Kriegsbündnis des ersten sozialistischen Staates mit zwei seiner Klassenfeinde, den imperialistischen Westmächten bürgerlich-demokratischer Ordnung, gegen den direkt an seiner Kehle sitzenden faschistischen Todfeind, der auch für diese aufgrund seiner Aggressivität und militärischen Macht einen unerträglichen Konkurrenten darstellte, den sie niederschlagen mussten. Aus diesem »ungleichen Bündnis« ergaben sich für die Arbeiterbewegung des westeuropäisch-britischen Raums, z. B. noch aktionsfähige kommunistische Parteien, spezifische Fragestellungen und politische Anforderungen, auf die wir im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingehen können.

[10] Wolfgang Schumann (et al.), Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Akademie-Verlag, Berlin 1982, Bd. 3, S. 468

[11] Zahlen in diesem Absatz nach Hildermeier, a. a. O, S. 616

[12] Overy, a. a. O, S. 377

[13] Thalheimer, Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem 2. Weltkrieg, 1946

[14] Brandler a. a. O., S. 80f.


aus Arbeiterpolitik Nr. 3/4 2017

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