Die Wahrheit in den Tatsachen suchen

Zur Diskussion

Die mit dem Artikel

Die Staaten, an deren Anfang eine siegreiche Revolution mit sozialistischem Ziel stand, …

eröffnete Diskussion führen wir mit einem zweiten Beitrag fort.

Außerdem möchten wir auf die fünfteilige Artikel-Reihe „Wie der Kommunismus nach China kam“unserer Schwesterzeitung Arbeiterstimme hinweisen.

Der nachfolgende Text ist die Überarbeitung eines Artikels aus Arbeiterpolitik 3/4 2015, dessen wesentliche Aussagen zur Rolle des heutigen China in der Welt Gültigkeit auch in der aktuellen Diskussion zum Thema haben.


.Zur heutigen Sichtweise auf China

Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ ist ein uraltes chinesisches Sprichwort, das auf Konfuzius (551-479 v. u. Z.) zurückgehen soll und auch Deng Xiao Ping zugeschrieben wird. Dieser soll es – neben anderen Sprüchen – verwendet haben, um seine Politik zu begründen, die darauf abzielte, kapitalistische Produktionsmethoden im – damals noch sozialistischen China einzuführen und damit Produktivität der Wirtschaft und allgemeinen Lebensstandard zuheben. Gemeint war mit diesem Vorgehen, nicht aus den Schriften von Marx, Engels, Lenin, Mao vorwegzunehmen,was eigentlich passieren müsste, und dann die tatsächlichen Ereignisse danach zu sortieren und zu bewerten, sondern gerade umgekehrt: ohne angemaßtes Vorauswissen zu schauen, was vorliegt, um dies dann nachträglich im Lichte der Theorie zu überprüfen. Damit war er freilich auch nahe bei den Klassikern: Es gehörte schließlich zu den Grundforderungen von Marx, „Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen“ und so die materialistische Denkweise in die sozialistischen Strömungen seiner Zeit einzubringen, sicherzustellen, dass die Theorie zwar die Praxis anleite, aber sich in dieser auch bewähren müsse. Hieran sollten sich auch Betrachtungen messen lassen, die über Staaten angestellt werden, die im Laufe des 20. Jahrhundert eine proletarische Revolution mit allen daraus folgenden Errungenschaften, aber auch Niederlagen durchgemacht haben, gegenwärtig jedoch nicht mehr in der Lage sind, gegenüber dem global ausgeweiteten Kapitalismus ein eigenständiges „sozialistisches Lager“ zu bilden.

Umso notwendiger erscheint es, der gegenwärtigen politischen Desorientierung über Theorie, Praxis und Perspektiven des Sozialismus ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Vor allem durch die historische Rückschau auf die Revolutionen und Umwälzungsprozesse seit 1917 und nach dem Zweiten Weltkrieg und durch die Beschreibung all der Schwierigkeiten und Hindernisse soll, gerade mit Blick auf Jüngere, klargemacht werden, dass nicht „der Sozialismus“, sondern die unter schwierigen Bedingungen gestarteten Aufbauprozesse, die keine hinreichend schon im Kapitalismus entwickelten materiellen und kulturellen Voraussetzungen hatten, einen sozialistischen Gesellschaftsentwurf umzusetzen, gescheitert sind.

In dem Artikel „Die Staaten, an deren Anfang eine siegreiche Revolution mit sozialistischem Ziel stand, und das Bild von ihnen in unserer lohnabhängigen Bevölkerung“ führt dieses Vorhaben jedoch zu falschen Schlussfolgerungen für unsere eigene Gegenwart, die mit völlig anderen Problemen als zur Zeit des realen Systemgegensatzes vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis etwa 1990 zu kämpfen hat. Das muss unterschiedlich bewertet werden, weil es sich um unterschiedliche Situationen handelt. Es gibt keinen Block sozialistisch orientierter Staaten mehr, auch keinen Rest davon. China, Vietnam, Kuba, um diese Länder als Beispiele zu nehmen, sind kapitalistische Staaten mit breiten öffentlichen Wirtschaftssektoren,vergleichsweise umfangreicher staatlicher Lenkung und Staatskonzernen, die auf dem Weltmarkt ihre Rolle spielen, im Falle Chinas inzwischen eine derart bedeutende, dass das Land als zweitgrößte Wirtschaftsmacht gilt. In diesen ökonomischen Grundannahmen sind wir uns auch noch weitgehend einig. Doch da ist dieses merkwürdige Konstrukt einer „kapitalistischen Wirtschaft unter kommunistischer Führung“, das den Artikel durchzieht. Dies soll im folgenden im Mittelpunkt der Kritik stehen. Auch die globale Rolle Chinas wird hier anders bewertet.

.Ist das (noch) eine kommunistische Partei?

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die KP Chinas eine revolutionäre und eine kommunistische Partei war, auch wenn die chinesischen Verhältnisse des zwanzigsten Jahrhunderts den gleichzeitigen in Deutschland, Frankreich oder England nicht entsprachen und deshalb andere Strategien erforderten. Schon früh war die KP darauf angewiesen, die Lösung der Bauernfrage in den Mittelpunkt ihrer Strategie zu stellen und sich selbst mehrheitlich als eine Bauernpartei und Landguerilla auf dem Langen Marsch zu formieren. Damit waren bereits Meinungsverschiedenheiten mit der Komintern gegeben, die die Losung der Diktatur des (industriellen) Proletariats ausgab. Nach der revolutionären Machteroberung in Peking 1949 und den gesellschaftlichen Umwälzungen der fünfziger Jahre noch unter sowjetischem Vorbild brach der Konflikt mit der Sowjetunion um die chinesische Eigenständigkeit offen aus und führte zur Spaltung des sozialistischen Lagers. Ab Mitte/Ende der 1970er Jahre vollzog die KP Chinas erneut eine grundsätzliche Wende und beschritt den heutigen Weg der Einführung kapitalistischer Wirtschaftsmethoden, während sie gleichzeitig ihre unbedingte Herrschaft im Lande zu einem Hauptprinzip erklärte.

Im Gegensatz zu den regierenden KPen der Sowjetunion und Osteuropas gelang es der chinesischen KP, die Machtpositionen im Staat in der Hand zu behalten. Dazu trugen folgende Gründe entscheidend bei:

In China begann die KP bereits Ende der 1970er Jahre mit Wirtschaftsreformen in Richtung Marktwirtschaft und Kapitalismus, als ihre politische Macht noch ohne Alternative und daher nicht in Frage gestellt war. Sie musste daher ihr politisches Schicksal nicht mit diesem Übergang verknüpfen (Ausnahme: der Aufstand am Tiananmen 1989, den sie überstand, indem sie ihn gewaltsam niederschlug).

Es gab ideologisch keine Totalrevision und keine Abrechnung mit dem „Kommunismus“ und der Person Mao Tsetungs (70 % seines Handelns seien für China gut und 30 % nachteilig gewesen). Der Marxismus wurde als formal verbindliche Tradition weiter gepflegt. Alle späteren Parteiführer von Deng Xiao Ping über Jiang Zemin bis Xi Jinping legten Wert darauf, sich als „große marxistische Theoretiker“ in diese Ahnenreihe einzuschreiben, so unzulänglich und auf die Legitimierung ihrer jeweiligen Praxis bezogen ihre Thesen auch sind (dieses Problem hatte die SU seit Stalins Zeiten freilich auch).

Die KP bekundet damit ihren Anspruch, dass sie an der Strategie, zum Sozialismus bzw. zum Kommunismus fortzuschreiten, festhält. Dies gelingt ihr, indem sie den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft auf mindestens hundert Jahre veranschlagt. Für die gegenwärtig lebenden Menschen ist das im Alltag und in ihrem Bewusstsein bedeutungslos, etwa wie hierzulande die Staatsräson der Marktwirtschaft und der bürgerlichen Demokratie trotz deren offensichtlichen Mängel.

Zum Begriff „sozialistische Staaten“

In den bürgerlichen Medien (Zeitungen, Fernsehen) werden Länder wie China, Vietnam und Kuba kaum noch als sozialistisch verstanden, jedenfalls nicht im Sinne eines den Kapitalismus überwindenden Gesellschaftsentwurfs oder gar als ein dem westlichen kapitalistischen Block gegenüberstehenden Lager. Diese Zeiten sind erst einmal vorbei. Wenn Begriffe wie „sozialistisch“ oder „kommunistisch“ auftauchen, so ist damit in der bürgerlichen Öffentlichkeit in der Regel die regierende Partei gemeint, deren Herrschaftsform als diktatorisch und die Menschenrechte missachtend dargestellt wird.

In den Zeitungen und Zeitschriften der linken Szene ergibt sich allzu oft kein differenzierteres Bild. Anders sieht es bei denen aus, die sich dem vergangenen sozialistischen Lager unter Führung der Sowjetunion, dem maoistischen China, dem aus dem antiimperialistischen Kampf gegen die USA hervorgegangenen Vietnam, ebenso Kuba verpflichtet fühlen. Hier werden oft Thesen vertreten, die darauf hinauslaufen, dass der Sozialismus trotz der Zerstörungen in der Sowjetunion und Osteuropa als sogenannte „sozialistische Marktwirtschaft“ z. B. in China und Vietnam weiter existiere.

Was sind nun „Sozialismus“ und „Kommunismus“, woran erkennt man eine Umsetzung solcher Gesellschaftsentwürfe? Eine berühmte Formulierung von Marx und Engels lautet: „Der Kommunismus ist nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung (Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35)“. Man muss also die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Dazu aber benötigt man Kriterien und Maßstäbe, an die man sich halten kann, um die Realität zu beurteilen.

Solche Kriterien wurden in der kommunistischen Bewegung formuliert und diskutiert. Thalheimer nannte in seiner in den späten 1940er Jahren verfassten Analyse der Sowjetunion (August Thalheimer, Die Grundlagen der Einschätzung der Sowjetunion, Bremen 1952, S. 32-33) folgende vier Punkte:

  1. Sozialistische Wirtschaft ist im ganzen Planwirtschaft (Anm.: So etwas wie „sozialistische Marktwirtschaft“ ist also ein Widerspruch in sich).
  2. Sie ist Produktion unmittelbar für den Bedarf.
  3. Die Tendenz des Kapitalismus zur Senkung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse, der unmittelbaren Produzenten, fällt weg; an ihre Stelle tritt die entgegengesetzte Tendenz als Motiv und Ziel der Produktion. …
  4. Durch die Enteignung werden die Kapitalisten als Klasse aufgehoben, denn es war gerade das ausschließliche Eigentum an den Produktionsmitteln, das sie zur Klasse machte (Anm.: Die Eigentumsfrage ist also als Kriterium klar benannt). … Indem aber die Klassenteilung der kapitalistischen Gesellschaft aufgehoben wird, werden die Klassen überhaupt aufgehoben, denn die Klassen sind eine geschichtliche Form der Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft. … „.

Dies alles besteht, wie Thalheimer betont, in der Tendenz. Es ist also kein schlichtes Raster, das den Gesellschaften aufgelegt werden kann, um ihren Status einfach abzulesen wie den Stand eines Stromverbrauchszählers. Aus unserer heutigen Erfahrung des Untergangs der Sowjetunion, die Thalheimer nicht hatte, sollten wir einen weiteren Punkt hinzufügen: die bewusste Auseinandersetzung mit dem Klassengegner innerhalb des jeweiligen sozialistischen Staates, also den Resten der entmachteten herrschenden Klasse bzw. einer sich neu formierenden Bourgeoisie, und auf internationaler Ebene mit den kapitalistischen Zentren in der globalen Konfrontation, die historisch der „Kalte Krieg“ heißt. Die Sowjetunion hat ihren Konflikt mit dem Kapitalismus bewusst geführt (dass vieles trotzdem negativ war, steht auf einem anderen Blatt) und ist daran zerbrochen, weil sie sich objektiv in einer Situation der politischen Isolierung und materiellen Unterlegenheit befand. China weicht dieser Form der Konfrontation aus, lässt sie ins Leere laufen, trat z. B. der WTO bei. Das kann man aus Sicht der herrschenden Partei eine kluge, umsichtige Politik nennen, aber ist sie damit „kommunistisch“, weil sie sich zu behaupten weiß und sich immer noch „kommunistisch“ nennt? Wir müssen also feststellen: Die Existenz einer sich kommunistisch nennenden Partei, die die Führung beansprucht und tatsächlich hat, reicht nicht aus zu der zuversichtlichen Annahme, dass das Land sich auf einem sozialistischen Entwicklungspfad befindet.

.Kapitalistische Wirtschaft unter kommunistischer Führung?

Haben wir damit im heutigen China eine kapitalistische Wirtschaft unter kommunistischer Führung? Eine solche Doppelherrschaft des bourgeoisen Prinzips der Kapitalverwertung und der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft nebeneinander kann nicht über Jahrzehnte, über den Wechsel ganzer Generationen bestehen, ohne dass nicht beide Seiten die jeweils andere vernichten oder bis zur Unkenntlichkeit verändern müssen. In der Sowjetunion wurde Ende der 1920er Jahre die NEP beseitigt. Die Perestroika der 1980er Jahre dagegen führte dort und in Osteuropa zum raschen Abtreten der kommunistischen Parteien von der Bühne der Geschichte. In China blieb die KP an der Macht, aber sie blieb nicht sie selbst.

Seit Maos Zeiten ist die Mitgliederzahl enorm gewachsen: von 1977 = 35 Millionen auf 2013 = 86,69 Millionen, also als absolute Zahl gesehen größer als die Einwohnerschaft der BRD. Besonders markant änderte sich dabei die Sozialstruktur der Partei: Die Anteile der „revolutionären Klassen“, also Arbeiter und Bauern, lagen 1956 bei 13 % (Arbeiter) und 70 % (Bauern), 2002 bei zusammen 45 %, 2013 bei nur noch 8,4 % (Arbeiter) und 29,6 % (Bauern), zusammen 38 %. In der Bevölkerung liegt der Anteil der Arbeiter jedoch deutlich höher bei 30,3 %, der der Bauern bei 33,6 %. Über die Jahrzehnte hinweg drückt sich darin natürlich die gesellschaftliche Entwicklung zur verstärkten Industrialisierung aus. Aber andere Gruppen – Freiberufler, Hochschulabsolventen, Manager, Unternehmer – nahmen zahlenmäßig überproportional zu – ein Trend, der sich historisch auch im kapitalistischen Westen bei sozialdemokratischen Parteien vollzog.

Heute sind in der KP ganz selbstverständlich auch UnternehmerInnen Mitglieder, denn die Partei vertritt den Anspruch, ganz China und alle Volksschichten zu umfassen. Im Nationalen Volkskongress saßen im März 2013 unter rund 3000 Abgeordneten 31 Dollarmilliardäre, zu denen noch einmal 52 Personen dieser Vermögensklasse in der gleichzeitig tagenden, etwas mehr als 2000 Mitglieder umfassenden „Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes“ kamen (Spiegel-online vom 8.3.2013). Im letzten Jahr soll es, beruhend auf Aktienhandel, einen Milliardärs-Boom in China gegeben haben, sodass sich aktuell, März 2015, unter diesen insgesamt 5.224 Parlamentariern sogar 203 Dollarmilliardäre befinden. Dazu kommen Hunderte von Dollarmillionären. Dies ist Ausdruck der Zunahme des Reichtums im Land und seines Einflusses in der herrschenden Politik. Eine zweite Revolution bzw. Kehrtwende zum sozialistischen Entwicklungspfad ist nicht mit, sondern nur gegen diese Kreise vorstellbar..

Zur politischen Rolle der KPCh

Dass die KP eine Staatspartei ist, entspricht ihrer politischen Stellung. Damit ist sie zugleich aber auch eine „Volkspartei“, deren Aufgabe darin besteht, möglichst alle Schichten der Bevölkerung zu integrieren und politisch – in freilich unterschiedlichem Maße – an der Macht zu beteiligen. Eine Klassenpartei der Arbeiter ist sie damit längst nicht mehr. Während es in „westlichen“ Ländern gesonderte Parteien gibt, müssen sich die entsprechenden Interessen in China als Fraktionen/Strömungen in der KP organisieren. Im Zuge der Öffnung zu Privateigentum und Marktwirtschaft hat sich die KP die konfuzianische Lehre der Harmonie zu eigen gemacht. Der Rückgriff auf die historische Tradition des vorsozialistischen Chinas stellt eine nationalistische Komponente in ihrer Politik dar. Sie richtet sich gegen die Übernahme von Vorbildern aus den USA und anderen westlichen Ländern und ist ein Standbein der politischen Herrschaft der KP-Führung. Die „chinesischen Werte“ sollen dazu dienen, eine Bedrohung des politischen Systems (Beispiel Hongkong) auszuschließen.

Marxismus wird formalisiert. Unter Jiang Zemin wurde 2001 die Ideologie der „drei Vertretungen“ entwickelt: Hiernach vertritt die KP die „fortschrittlichsten Produktionskräfte“, die „fortschrittliche Kultur“ und die „Interessen der großen Mehrheit“. Das ist nun jedoch genau jener „Fortschritt“, den man in China seit 1978 erleben kann: immer weitere Modernisierung der Produktion und des sonstigen Lebens, immer mehr Reichtum – wobei die Mehrheit der Chinesen hoffen darf, irgendwann auch einmal reich zu werden. Das ist der bürgerliche Weg. Klassenkampf, Bekämpfung von Ausbeutung, Sozialisierung von Produktionsmitteln und Umverteilung eines Reichtums, der auf dem Rücken der Arbeiter entstanden ist, kommen in dieser Weltsicht nicht mehr vor.

Die heutige Führungsgeneration um Xi Jinping wird als „fünfte Generation“ bezeichnet. Ihre Mitglieder haben alle ihre politische Sozialisation in der „Reform-Ära“ der letzten vier Jahrzehnte erfahren. Auch wenn sie Kinder und Enkel von Kadern des Langen Marsches und der sozialistischen Aufbaujahre sind, wird ihr Denken doch wesentlich von den heutigen Zeitumständen bestimmt. Dies drückt sich auch darin aus, dass sie ihre Kinder gern im kapitalistischen Ausland studieren und ausbilden lassen. Wenn sie dabei gleichzeitig im Inland Kampagnen fahren, um chinesische Traditionen und Marxismus, wie sie ihn heute verstehen, gegen „westliche Werte“ hochzuhalten, so predigen sie gewissermaßen Wasser, während sie selbst Wein trinken – das nicht einmal heimlich. Bereits Deng Xiao Ping hatte propagiert, dass zunächst einmal ein Teil der Bevölkerung reich werden solle. Vor den ökonomischen, kulturellen und mentalen Folgen einer solchen Strategie – unternehmerisches Denken, Karrierismus, Korruption etc. – sollte man nicht die Augen verschließen.

„Sozialrevolutionäre Ausgangslage“ = NEP-Periode?

Dass China heute kapitalistisch ist, sollte nicht beschönigt werden. Der Verweis auf die ungünstige Ausgangslage, weil dieses Land eine Agrargesellschaft mit noch weniger Industrie und einer noch kleineren Arbeiterklasse als im vorrevolutionären Russland war und nach dem Bruch mit der Sowjetunion bzw. auf sich selbst zurückgeworfen war, gilt zwar zu Recht. Die notwendige Entwicklung der Produktivkräfte soll durch das „Hereinholen der kapitalistischen Produktionsweise“ ermöglicht werden, so die oft zu lesende Argumentation. Doch der hiermit nahegelegte Vergleich mit der historischen NEP-Periode (NEP bzw. deutsch NÖP = Neue Ökonomische Politik 1921-1928 im revolutionärenRussland) erscheint zweifelhaft.

Thalheimer zufolge (August Thalheimer, Über die Kunst der Revolution und die Revolution der Kunst, München 2008, S. 42) konnte der „Sieg der Arbeiterklasse im allgemeinen nicht sofort die klassenlose sozialistische Gemeinschaft bringen„. Klassen und Klassenkampf bestehen vielmehr weiter. Dauer und Form einer Übergangsgesellschaft hängen demnach davon ab, in welchem Entwicklungsstand das gegebene Land sich befindet und in welcher internationaler Umgebung sich der revolutionäre Prozess vollzieht.

In der Übergangsgesellschaft werden Merkmale der kapitalistischen Wirtschaftsform beibehalten, „als da sind: Beibehaltung eines privatkapitalistischen Sektors des Marktes, Beibehaltung von Teilen der landwirtschaftlichen Fläche in privatwirtschaftlichem Einzelbetrieb, Beibehaltung des Geldlohnes in der ganzen Industrie und teilweise in der Landwirtschaft, Leistungslohn, große Differenzierung der Löhne usw. Die wesentlichen Züge dabei sind erstens, dass in beträchtlichem Umfang die Warenform des gesellschaftlichen Produkts festgehalten wird, und zweitens, dass die individualistischen Antriebe für die Arbeitsleistung noch überwiegen. Diese Formen sind nicht willkürlich, sie sind durch die vorhandenen materiellen Voraussetzungen bedingt“ (August Thalheimer,Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nachdem 2. Weltkrieg, Bremen o. J., S. 18).

Brandler führte Lenin an: „Lenin erläutert die Lage folgendermaßen: ‚(…) Diese Freiheit des Austausches bedeutet Freiheit des Kapitalismus. (…) Freiheit des Handels bedeutet Freiheit des Kapitalismus, es bedeutet aber eine neue Form des Kapitalismus, es bedeutet, dass wir den Kapitalismus bis zu einem gewissen Grade neu schaffen. Wir tun dies ganz offen, es ist Staatskapitalismus. Aber Staatskapitalismus in einer Gesellschaft, in der der Kapitalismus die Staatsgewalt hat, und der Staatskapitalismus in einem proletarischen Staat sind zwei verschiedene Begriffe. Im kapitalistischen Staat bedeutet der Staatskapitalismus, dass der Kapitalismus vom Staat anerkannt, vom Staat kontrolliert würde, zugunsten der Bourgeoisie gegen das Proletariat. Im Proletarierstaat geschieht dasselbe zum Nutzen der Arbeiterschaft, um gegen die immer noch allzu starke Bourgeoisie bestehen und kämpfen zu können.‚ “ (Heinrich Brandler, Die Sowjetunion und die sozialistische Revolution, Bremen 1982, S. 15).

Dies ist also als bewusste Strategie zu verstehen. Allerdings muss die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus kurz sein, und es muss darauf geachtet werden, dass zentrale ökonomische Bereiche vergesellschaftet bleiben. Anderenfalls verlieren die revolutionäre Klasse bzw. die kommunistische Führung die Kontrolle über die gesellschaftliche Entwicklung, und die Gefahr der Entstehung einer neuen Bourgeoisie wird Realität.

In der Sowjetunion wurde damals „nur bis zu einem gewissen Grade, soweit diese Entwicklung nämlich imstande ist, den sofortigen Aufschwung der Landwirtschaft zu beschleunigen“ (Heinrich Brandler, dto., S. 15), der Kapitalismus eingeführt: eben in der Landwirtschaft sowie in Handel und Kleingewerbe. All das jedoch, was als „Kommandohöhen der Wirtschaft“ begriffen, also für den Aufbau des Sozialismus als unabdingbar notwendig erachtet wurde, wurde von der Reprivatisierung ausgenommen: Außenhandel, Banken und Industrie. Hier sieht es bei China eindeutig anders aus: Der Markt wurde inzwischen sehr weitgehend eingeführt, er betrifft nicht nur Randbereiche. Der Abbau des Anteils der Staatsunternehmen auf deutlich unter ein Drittel von Produktion und Beschäftigung in der Gesamtwirtschaft und die weitgehende Freigabe des Finanzsektors seit Mitte der neunziger Jahre bedeuten den Verzicht auf „Kommandohöhen der Wirtschaft“ und damit auf staatliche Planungskompetenz. Politische Lenkung scheint es nur noch in der Festlegung des Yüan-Dollar-Kurses durch die Zentralbank zu geben, um darauf zu achten, dass der Export nicht zu teuer wird.

Die NEP-Periode in Russland dauerte nur wenige Jahre: 1921-1928. In China begann die Politik des „Hereinholens der kapitalistischen Produktionsweise“ je nach Zählweise Mitte der siebziger bis achtziger Jahre und gilt noch heute. Das sind 30 bis 40 Jahre – etwa das, was man üblicherweise unter einer Generation versteht.

.Zur globalen Rolle Chinas

Der Begriff „Staaten, an deren Anfang eine siegreiche Revolution mit sozialistischem Ziel stand“ unterstellt eine Kontinuität mit der Möglichkeit eines Rückgriffs auf diese Ausgangslage. Diese ist zwar noch vorhanden, aber sie ist hinter den Bruch zurückgetreten, der durch den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers global bewirkt wurde (zuvor – frühe sechziger Jahre – Bruch Chinas mit der SU). Die seinerzeitigen sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion haben, solange sie bestanden, dem Zugriff des Kapitals Schranken gesetzt, sowohl im eigenen Bereich als auch global (bspw. direkt und indirekt Raum geschaffen zugunsten von antikolonialen Befreiungsbewegungen, Klassenkämpfen und systemverändernden Vorstellungen in den hochkapitalistischen Staaten). Die Zeiten haben sich geändert, die sogenannten „Staaten mit sozialrevolutionärer Ausgangslage“ – neben China etwa noch Vietnam und Kuba – haben diese Rolle nicht, stellen weder im eigenen Bereich noch global eine Schranke gegen den Kapitalismus dar. Die Vorgänge und Verhältnisse, die im hier zu kritisierenden Artikel (etwa im Abschnitt „Wie stellen wir uns dieser Konstellation“) beschrieben werden, sind teils solche, die die Probleme „nachholender“ Entwicklung kennzeichnen, teils aber ganz schlicht solche, die unter Begriffen wie „kapitalistische Konkurrenz“ und „staatlicher Protektionismus“ zufassen sind. Staaten wie China, Vietnam, Kuba haben eine Bauernrevolution unter sozialistischem Vorzeichen durchgemacht, streben nun aber die Integration in den Weltmarkt an.

Natürlich können wir nicht definitiv ausschließen, dass und ggf. auf welchem Wege China in einer ferneren Zukunft „zum Sozialismus zurückkehrt“, aber dies erscheint gegenwärtig so wenig begründet, dass wir davon nicht ausgehen können. Wir müssen uns an das halten, was ist. Das gilt für die internationale Ebene, die Situation im Lande selbst und die politische Einschätzung der regierenden KP. So werden wir es vermeiden, manche Vorgänge zu antiimperialistischen Aktionen hochzustilisieren, die sich bei näherer Betrachtung als kapitalistische Konkurrenzkämpfe zwischen Zentralmächten wie China und USA entpuppen.

.Fazit

In einer Zeit, in der sich rings um uns herum Krisenzeichen der kapitalistischen Produktionsweise bemerkbar machen, in den kapitalistischen Zentren die Lohnabhängigen aber noch überwiegend Arbeit haben, wirkt das Scheitern der sozialistischen Staaten wie eine Blockade ihrem Denken: Solch ein Sozialismus ist kein Ausweg. Man muss es festhalten: Wirklich gescheitert ist nicht die sozialistische Gesellschaft, sondern die unter schwierigen Bedingungen gestarteten Versuche, in Regionen wie Osteuropa, Ostasien, Kuba, die historisch keine hinreichend schon im Kapitalismus entwickelten materiellen und kulturellen Voraussetzungen hatten, einen sozialistischen Gesellschaftsentwurf umzusetzen. Aber es reicht nicht, diese Blockade im Denken durch abstrakt richtige Analyse vergangener Zeiten auflösen zu wollen. Die Aufgabe, Klassenbewusstsein in heutiger Zeit und in Zukunft zu entwickeln, werden wir in erster Linie durch das richtige Verständnis der gegenwärtigen und fortdauernden Probleme bewältigen müssen.

Das Scheitern eines sozialistischen Aufbaus in unserer Periode gilt eben auch für China, ungeachtet der Ungewissheit, wie es weitergeht. Wenn selbst die chinesische Regierung ihr Land als „sozialistische Marktwirtschaft“ bezeichnet (und darauf drängt, dass die WTO das endlich international anerkennt), sollte man ihr das glauben. Marktwirtschaft aber ist Privatwirtschaft. Unter den geltenden globalen Rahmenbedingungen ist sie kapitalistisch. Es gibt Klassen und damit auch Klassenkämpfe. Von daher stellen sich uns folgende Fragen wie: Gewinnen die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten dauerhaft die Oberhand? Zu welcher Kraft entwickeln sich die um ihre Rechte kämpfenden Arbeiter? Sie stellen sich aber auch bei uns und überall auf der Welt.

.16.6.2015 – Überarbeitung 16.2.2021


Die Diskussion wird fortgesetzt mit dem Artikel:
Warum besteht heute Interesse an der China Diskussion?

Außerdem möchten wir auf die fünf-teilige Artikel-Reihe „Wie der Kommunismus nach China kam“unserer Schwesterzeitung Arbeiterstimme hinweisen.


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4 Kommentare

  1. Die Kritik bedeutet ein Zurückrudern ohne Antworten auf die Fragen der wirklichen Bewegung.
    China sei kapitalistisch und werde von einer Volkspartei regiert, die sich zu Unrecht „kommunistisch“ nenne. Das habe die Konsequenz, dass Anti-Imperialisten China nicht gegen die Angriffe der USA und ihrer Verbündeten verteidigen sollen. [Die MLPD kennzeichnet China sogar als „neuimperialistisches Land“; ihre philippinische Schwesterpartei CPP hat jüngst ihre Kämpfer zu terroristischen Angriffen auf chinesische Firmen in den Philippinen aufgefordert.]
    China hat tatsächlich die menschlichen Produktivkräfte enorm entwickelt, einen moderaten Wohlstand für alle verwirklicht, die absolute Armut besiegt und es leistet einen globalen Beitrag zur Entwicklung der Infrastruktur in armen Weltregionen. Isolationistische Autarkie gegenüber der Weltwirtschaft ist keine Option für ein Milliardenvolk.
    Zur Anwendung der dialektisch-materialistischen Methode bitte mal die Rede von Xi Jinping lesen:
    https://www.kaz-online.de/artikel/der-dialektische-materialismus

  2. Liebe Genoss*Innen,

    wir schicken euch folgende Anmerkungen zum Diskussionsbeitrag „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen “ zu. Wir möchten diese gerne in die Kommentarfunktion stellen, nehmen aber an, dass nicht alle die Kommentare lesen.

    Wir sind sehr irritiert über die Aussage : „China, Vietnam, Kuba sind kapitalistische Staaten mit breiten öffentlichen Wirtschaftssektoren, umfangreicher staatlicher Lenkung ………

    Wir können uns hier nur zu Kuba äußern, nicht zu China und Vietnam , weil wir zu wenig Ahnung von den konkreten Verhältnissen dort haben. Aber wir halten die Herangehensweise in der Beurteilung von China, Vietnam und Kuba für schematisch und abstrakt, die Verhältnisse werden nicht konkret untersucht, der eigenen Anspruch: „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ wird nicht eingelöst.

    Entspricht die Einordnung Kubas in den Kapitalismus wirklich den Tatsachen?

    Oder ist Kuba nicht vielmehr immer noch eine sozialistische Gesellschaft mit aus der Not geborenen marktwirtschaftlichen Elementen? Gibt es nur noch schwarz oder weiß? Welche Konsequenzen hat es für die Kubasolidarität, wenn wir behaupten, Kuba sei kapitalistisch?
    Aus der letzten Verfassung von 2018 wurde das Ziel Kommunismus gestrichen. Stattdessen begreift die kommunistische Partei Kubas die Gesellschaft als „Sozialismus im Aufbau“. Das mag angesichts der Tatsache, dass kein sozialistisches Lager mehr existiert, illusionär sein, es ist auch mehr als zweifelhaft, dass unter den heutigen weltpolitischen Kräfteverhältnissen ein Sozialismus in einem Land aufgebaut werden kann. Aber in dieser Aussage steckt die Hoffnung, dass die Bevölkerung auch in Zukunft bereit sein wird, bestimmte revolutionäre Umgestaltungen , die im Kampf gegen den Imperialismus und die eigene herrschende Klasse opferreich durchgesetzt werden mussten, verteidigt werden.

    Dazu gehören der im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern hohe Standard der Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung, die kostenlose Bildung für alle, das Festhalten an der staatlichen Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, das Festhalten an einem mehrheitlich staatlichen Sektor, vor allem in den wenigen Schlüsselindustrien.

    Das alles unter den extrem schwierigen Bedingungen der Blockade durch die USA und teilweise auch der EU, des Verfalls des Ölpreises, der Krise in Venezuela, des Wegfalls der Unterstützung eines sozialistischen Lagers.

    Ob sich „der Sozialismus im Aufbau“ weiterentwickeln kann oder ob er scheitert, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die nur im geringen Ausmaß von der Kommunistischen Partei Kubas beeinflusst werden können. Dazu gehören: die internationalen Kräfteverhältnisse, die Frage, ob sich eine internationale, kämpferische Arbeiterbewegung herausbildet, die Solidarität mit Kuba einfordert, die Art der Unterstützung durch Russland und China, ein Ende der Blockade, die Überwindung der inneren Widersprüche. Dazu gehört die Frage, ob es gelingt, der Jugend in Kuba eine Perspektive zu geben. Heute ist es so, dass viele junge Menschen in Kuba frustriert sind, denn trotz guter Ausbildung und Unistudium finden sie in den Staatsbetrieben oder im öffentlichen Dienst selten eine Arbeit , die es ihnen ermöglicht eine Familie zu gründen. Deshalb ziehen es viele vor, mit einem Diplom in der Tasche Taxi zu fahren oder ein kleines Cafè zu eröffnen.

    Wir sind weit davon entfernt, den kubanischen Sozialismus zu idealisieren. Das ist eine Mangelwirtschaft, aber man versucht einerseits den Mangel gerecht zu verteilen und andererseits den Mangel in der Versorgung dadurch zu mildern, dass in begrenztem Umfang auch ein Privatsektor zugelassen wurde. Nach der Regierungsübernahme von Raul Castro 2008 wurde streng reglementiert durch die Regierung, die Wirtschaft für ausländisches Kapital geöffnet, staatlichen Betrieben wurde mehr Autonomie zugebilligt, vor allem konnten bestimmte Berufe im Bereich der Beförderung, der Touristik, der Gastronomie , im Handwerk, in der Landwirtschaft nun auf „eigene Rechnung“ arbeiten. Gleichzeitig wurde deutlich gemacht, dass es keine Konzentration von Reichtum geben werde. Und den gibt es auch nicht. Was im Privatsektor von „Ich-Ag`s“ oder von Familien erwirtschaftet wird, ist zwar höher als die Löhne im Staatssektor, führt aber nicht dazu, dass sich eine Kapitalistenklasse entwickelt. Bestenfalls eine bescheidene Mittelschicht. Privatbesitz an Produktionsmittel, die der Ausbeutung dienen, gibt es kaum. Es sei denn, man betrachtet die Friseurschere, die Hühnerkäfige auf dem Dach, das Schuhputzequipment oder den Küchenherd schon als Produktionsmittel im kapitalistischen Sinne. Der dort geschaffene Reichtum ist sehr bescheiden, weil begrenzt durch Abgaben und das Verbot, Arbeiterinnen außerhalb der Familie zu beschäftigen. Daneben gibt es seit einigen Jahren neben den Staatsbetrieben auch noch andere Eigentumsformen: Kooperativen, Genossenschaften.

    Es existiert auch eine Sonderwirtschaftszone, die ausländische Investoren anziehen soll. Dies ist aber wohl aufgrund der Blockade nur in sehr geringem Umfang gelungen. (Bauwirtschaft, Lebensmittelindustrie, Telekommunikation)
    Wie sich zukünftig die Situation in Kuba entwickelt, nachdem im Februar 2021 viele weitere Tätigkeiten für die „Arbeit auf eigene Rechnung“ freigegeben wurden, kann niemand heute sagen. Diese immer noch stark begrenzte „marktwirtschaftliche Liberalisierung“ wurde ohne Zweifel notwendig, weil durch die Corona Pandemie der gesamte Tourismusbereich vollständig weggebrochen ist und so viele Kubaner ihre Jobs verloren haben. Zusätzlich mussten über 200 000 der insgesamt circa 600 000 „Ich-Ag´s“ (Tätigkeiten auf eigenen Rechnung) aufgeben.

    Aber Kuba wegen solcher Maßnahmen, die in der jetzigen Situation alternativlos sind, in die Schublade „Kapitalismus“ zu stecken, halten wir für falsch. Es ist doch ein Unterschied, ob eine kommunistische Partei zu solchen begrenzten Maßnahmen gezwungen ist, um die Versorgung der Bevölkerung zu retten oder ob eine bürgerliche Regierung, die Profitinteressen der Unternehmerklasse bewahren will.

    Man muss doch die Verhältnisse und die damit verbundenen Zwänge konkret untersuchen – das gilt natürlich auch für China und Vietnam.

    Auf jeden Fall ist es unsere Aufgabe, auch weiterhin die Aufhebung der Sanktionen zu fordern und Kuba durch praktische Hilfen zu unterstützen.

    Brigitte und Jürgen

    • Brigitte und Jürgen fragen: „Entspricht die Einordnung Kubas in den Kapitalismus wirklich den Tatsachen?“ In der Folge führen sie viele Argumente bzgl. des kubanischen Weges und seiner Schwierigkeiten im Schatten der Blockade durch die USA auf, die ich faktisch einfach für richtig halte. Aber welche Schlußfolgerung ergibt sich daraus? Sie schreiben: „Es ist doch ein Unterschied, ob eine kommunistische Partei zu solchen begrenzten Maßnahmen gezwungen ist, um die Versorgung der Bevölkerung zu retten oder ob eine bürgerliche Regierung, die Profitinteressen der Unternehmerklasse bewahren will.“ Deshalb sei es falsch, Kuba „in die Schublade „Kapitalismus“ zu stecken“. Was ist es dann? Geht es noch um Aufbau des Sozialismus oder geht es um Schadensbegrenzung in der Mangelverwaltung? Wie es weiter geht, kann niemand mit Sicherheit sagen.
      Der Denkfehler, den Brigitte und Jürgen m. E. nach hier begehen, liegt darin, die Problematik der aus der Not geborenen Maßnahmen zu unterschätzen. Ob der Weg des Aufbaus des Sozialismus fortgesetzt werden kann oder nicht, bestimmen nicht allein subjektive Faktoren wie die gegen die US-amerikanische Bedrohung gerichtete antiimperialistische Stimmung in der Bevölkerung oder die sozialistische Orientierung in der politischen Fürung, bei den Kulturschaffenden, in der Wissenschaft etc., sondern ganz wesentlich auch die objektiven Faktoren. Die sprechen nunmal gegen Sozialismus in einem, dazu sehr kleinen und sehr bedrohten Land. Worum handelt es sich dann? Dürfen wir „Kuba“ nicht mehr unterstützen oder solidarisch begleiten, wenn wir es nicht mehr als „sozialistisch“ ansehen, sondern feststellen müssen, daß der Kapitalismus -wenn auch auf niedrigem Niveau und ohne spektakulären Reichtum- dort Fuß gefaßt hat und vermutlich weiter um sich greifen wird? Oder gibt es dennoch eine Besonderheit in Kuba? Ja, die gibt es. Es ist die von der Situation aufgezwungene, in breiten Teilen der Bevölkerung sicher noch mit Überzeugung getragene antiimperialistische Stimmung. Meine Position also: Kuba ist nicht sozialistisch, aber antiimperialisitisch. Das gilt zu bewahren und zu unterstützen, bis die Verhältnisse so weit sind, daß ein globaler Aufstieg sozialistischer Strategie möglich erscheint.
      Wie verhält es sich mit China? China ist ein mächtiges Land, zum Gegenspieler der USA geworden. Aber ist es deswegen antiimperialistisch? Ist es sozialistisch (man beziehe die im Artikel „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ aufgeführten KPO-Kriterien auf die heutige chinesische Realität)? M. E. trifft auf China beides nicht zu, wie der genannte Artikel beschreibt.
      Im Jahre 1996 besuchte ich Peking als Pauschaltourist. Als in unserer Reisegruppe der Besuch der Kaisergräber der Ming-Dynastie auf dem Programm stand, seilte ich mich ab und fuhr mit dem Taxi zum Platz des Himmlischen Friedens. Dort ging ich ins Revolutionsmuseum (auf der Ostseite, gegenüber der Großen Halle des Volkes, in dem der Nationale Volkskongreß tagt). Die dort befindliche Dauerausstellung der chinesischen Geschichte von den Opiumkriegen (1842 ff.) bis zur Ausrufung der Volksrepublik (1949), jedes Exponat mit chinesischer und englischer Beschriftung, zeigte mir vor dem Hintergrund meines Basiswissens zur chinesischen Geschichte deutlich den antiimperialistischen Faden dieser Darstellung der Periode. Aber schon damals beschlich mich das Gefühl: Was ist, wenn die chinesische Gesellschaft diese ungeheuer positive Entwicklung eines Tages nicht mehr als Voraussetzung und Kampf um den Aufbau des Sozialismus begreift, sondern als (Wieder-) Aufstieg zu nationaler Größe versteht und vermittelt? Dies wurde mir noch verstärkt durch den anschließenden Besuch des Mao-Mausoleums. Beeindruckend war nicht nur so sehr die kleine, von einem grünen Tuch bedeckte Gestalt des Großen Vorsitzenden im gläsernen Sarkophag, sondern der Vorraum. Hier thront ein überlebensgroßer, in weißen Marmor gemeißelter Mao auf einem Sessel, beide Unterarme auf die Armlehnen abgelegt. Die Darstellung erinnerte mich in Stil und Ausführung sofort an ein Denkmal, daß ich von Abbildungen kenne, aber sicher niemals sehen werde: das Lincoln-Memorial in Washington.
      Fazit:
      Was wird aus Kuba, wenn die noch bestehende antiimperialistische Stimmung gebrochen würde? Dann bliebe aufgrund der Machtlosigkeit eines kleinen Landes im Hinterhof der USA nur die Unterordnung unter den Yankee-Imperialismus mit all den Folgen für die soziale Entwicklung im Lande.
      Was ist im Vergleich dazu in China im Lichte seiner offenbar wiedergewonnenen Weltstellung aus der antiimperialistischen Tradition geworden? Sie geht heute in Richtung einer Konkurrenz von Weltmächten, die zumindest auf der staatlichen Ebene nichts mehr hat von dem einstigen auch inhaltlich begründeten Systemgegensatz von vor 1989.

  3. Brigitte und Jürgen kann ich in allen Punkten beipflichten.
    dazu noch zwei Anmerkungen: Bereits am 18.Mai 2020 habe ich in einem großen Interview in der „Jungen Welt“ zu einer Kampagne aufgerufen, den kubanischen Ärzten für ihren beispiellosen Einsatz den Friedensnobelpreis zu verleihen
    („Mindestens 80 000 Menschen haben sie das Leben gerettet“). In den folgenden 9 Monaten blieb die Resonanz auf diesen und spätere Aufrufe erschreckend gering –
    während in den USA(!) die Kampagne „nobelcuba“ viele Anhänger fand, war in Deutschland eine seltsame Apathie zu beobachten, auch zahlreiche Schreiben an
    Kuba-Gruppen und ihre Protagonisten blieben unbeantwortet. Das bestätigt die Einschätzung ausländischer Freunde, dass in der BRD die dramatische Bedrohung durch die USA nicht in ihren ganzen Dimension erkannt wird.
    Das führt gleich zum nächsten Punkt – den unglablichen volkswirtschaftlichen Verlusten durch 60 Jahre Blockade, die ein anderes Land längst in die Knie gezwungen hätten. Daher kann man Kuba auch nicht mit dem prsperierenden China vergleichen, das einen Spielraum für wirtschaftliche Maßnahmen hat, während Kuba ums nackte Überleben kämpft.
    Geert Platner

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