»Die Utopie des Sozialismus – Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution«
von Klaus Dörre

Buchbesprechung

Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus …, Berlin 2021

Was bringt in unserer Gegenwart ein Buch mit dem Titel „Die Utopie des Sozialismus“? Haben wir im beginnenden 21. Jahrhundert, einer Zeit der vervielfältigten Krisendynamik in Ökonomie, Ökologie, sozialer Reproduktion nicht wichtigere und drängendere Probleme zu lösen? Kann man nach dem historischen Zusammenbruch der sozialistischen Entwicklungsstrategie (unter Bedingungen der nachholenden Akkumulation) und damit einer weitgehenden Diskreditierung von gesellschaftlichen Alternativen zum Kapitalismus mit diesem Thema wirklich mehr erreichen als die üblichen, überschaubaren, speziell politisch interessierten Zirkel von zudem meist akademisch-intellektuell Gebildeten? Ist es nicht vielmehr nötig, dass „Theorie die Massen ergreift„, damit sie „zur materiellen Gewalt“ wird (Marx in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“), d. h. ein durchsetzungsfähiges Konzept ergeben kann? Welche realen Aussichten also kann in einer Zeit, in der eine klassenbewusste Arbeiterbewegung sich kaum regt, die Beschäftigung mit der „Theorie“ einer solchen haben? Wie kann sie an die gegenwärtigen, konkreten Bedürfnisse der Lohnabhängigen so anknüpfen, dass eine den Kapitalismus überwindende Perspektive wieder denkbar wird, ohne als abgehobene Spielwiese von „Theoretiker:innen“ zu erscheinen?

Welche gesellschaftlich relevanten Bewegungen, die zumindest ihrem inhaltlichen Ansatz nach über die notwendige Beendigung der kapitalistischen Vergesellschaftung hinausstreben, gibt es überhaupt? Konkreter gefragt: Wie passen soziale und ökologische Themen zusammen, und wie können sie als Klassenfragen geltend gemacht werden? Wie steht es – angesichts der historischen Erinnerung an die autoritären Vereinheitlichungs- und Unterdrückungspraktiken im früheren Staatssozialismus – mit der demokratischen Legitimierung politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Entwicklungen (hierauf hat schon Rosa Luxemburg in ihrer Auseinandersetzung mit Lenin und Trotzki in der Russischen Revolution hingewiesen)? Mit Fragen dieser Art befasst sich das hier besprochene Buch von Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

In der marxistischen Tradition sind ökologische Themen bekanntlich lange vernachlässigt worden. Gerade auch in der Realität der historischen Gesellschaften in Osteuropa und Ostasien, die sich den Aufbau des Sozialismus zur Richtschnur gemacht hatten, wurden Umweltfragen der Auseinandersetzung mit dem Systemgegner untergeordnet. Dazu sind zwei Hinweise dringend notwendig: Erstens kann es angesichts der Problematik des Klimawandels nicht so bleiben. Zweitens hat schon Marx sich gründlich mit dem auseinandergesetzt, was wir heute als ökologische Fragen bezeichnen. Doch diese Theorielinie geriet im Laufe der Geschichte aus dem Blickfeld, wurde verschüttet unter dem letztlich vergeblichen und schädlichen produktionistischen Wettbewerb der Systemauseinandersetzung. Auch in der Arbeiterpolitik haben wir, so meine ich, das Thema „Ökologie“ lange vernachlässigt und tun darin immer noch zu wenig. Aber begonnen haben wir damit schon (vgl. etwa Buchbesprechung zu Kohei Saito, Natur gegen Kapital – Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, in Arbeiterpolitik 5/6 2018). Hieran soll dieser Beitrag anknüpfen.

Einführung, einschließlich „Selbstverortung“

Das Buch beginnt mit einer Mischung autobiografischer und zeitgenössisch-gesellschaftlicher Darstellungen der Verhältnisse der „Post-Achtundsechziger Jahre“, die der Autor, Sohn eines Eisenbahners und einer Bäckereigehilfin, als Schüler und Student erlebte (der Rezensent etwa gleichen Alters kann sich gut damit identifizieren). Es geht um die Aufbruchs-, teilweise sogar Revolutionserwartungen, die die Linken dieser/unserer Generation beflügelten. Und es geht darum, dass diese Zeit, ihre Entwicklungen, ihre Denkweisen und Hoffnungen nicht vergeblich waren. Auch wenn es gegenwärtig nicht so scheinen mag: Etwas hat überlebt. Dörre schreibt:

Dennoch, verkrustete Verhältnisse zum Tanzen zu bringen und Herrschaftsmechanismen aufbrechen zu können, ist eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Deshalb betrachte ich mich heute als den Angehörigen einer privilegierten Generation. Ich habe den revolutionären Aufbruch erlebt und bin zugleich ein Kind der größtmöglichen Niederlage – des Niedergangs sozialistischer und kommunistischer Arbeiterbewegungen ebenso wie der Implosion von Gesellschaftsmodellen, die für eine kurze historische Zeitspanne beanspruchten, erstrebenswerte Alternativen zum Kapitalismus zu sein. Das Bewusstsein der Niederlage bewahrt mich hoffentlich davor, Irrtümer und Fehler nur bei anderen zu suchen. Vor allem aber lässt es Illusionen über die vermeintlich schwindenden Lebensgeister kapitalistischer Vergesellschaftung nicht zu. Selbst epochale Krisen, die das gesamte Gesellschaftsmodell erschüttern, führen nicht im Selbstlauf aus der Verwertungslogik heraus. … Es ist die glaubwürdige Alternative, an der es fehlt. … Der Anspruch, von der Utopie zur Wissenschaft geworden zu sein, hat zur Verknöcherung des Sozialismus, zu falschen Versprechungen, herrschaftlichen Totalitätsansprüchen und dort, wo er zum System erstarrt war, letztendlich zu dessen Zusammenbruch geführt. Heute muss der Sozialismus sich wieder als attraktive Utopie bewähren, um überhaupt gesellschaftlich und politisch Wirkung erzielen zu können. … Es geht um eine Begründung der Koordinaten für eine ökologisch-sozialistische Transformation, nicht um die Beschreibung fertiger Gesellschaftsmodelle. (S. 13 f.)

Diese Worte stehen wohl für die Motivation, mit der der Autor sein Buch geschrieben, und für das Konzept, nach welchem er Inhalt, Kapitel und Argumente im Folgenden strukturiert hat. Wie das Literaturverzeichnis zeigt, hat er sich in den letzten Jahren wiederholt mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt, und das vorliegende Buch stellt offenbar eine Zusammenfassung dieser Bemühungen dar. Der Titel ist eine bewusste Anspielung auf eine in der Bildungsgeschichte der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zentrale Broschüre von Friedrich Engels: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft„. Damit seien wir heute durch, so die Argumentation. Die historischen Ergebnisse in Aufstieg und Niedergang des staatszentrierten „Realsozialismus“ dürfen uns aber nicht auf Dauer marginalisieren. Wie im obigen Zitat ausgedrückt, seien unter den gegenwärtigen Umständen der Wille und die Fähigkeit zum utopischen Denken wieder gefordert.

In den ersten drei Kapiteln des Buches legt Dörre seine Sicht auf eine künftige, vom Kapitalismus befreite Gesellschaft dar, für die er – trotz aller Einwände – auf der Bezeichnung „Sozialismus“ besteht. Aber sie muss die historischen Erfahrungen und die gegenwärtigen Gefahren aufgreifen. „Die Sozialismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Kinder der ersten industriellen Revolution (S. 39).“ Die eingetretenen Fehlentwicklungen (vgl. Kasten), etwa in der unmittelbaren Konfrontation mit dem an Produktivkraftentwicklung noch weit überlegenen Kapitalismus der westlichen Großmächte, die zur „Pervertierung marxistischer Sozialismusvorstellungen in repressiven staatsbürokratischen Systemen“ führten, müssen als solche eindeutig erkannt werden, um die notwendigen Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Die „sozialistischen Ideen des 21. Jahrhunderts“, so Dörre, „müssten ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen (S. 39)„.

Begrifflichkeiten: Warum nachhaltiger Sozialismus?

Engels, auf den sich Dörre immer wieder bezieht, begründete in der zitierten Broschüre „die Notwendigkeit sozialistischer Transformation hauptsächlich mit dem Konflikt zwischen ‚gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung‘ (S. 40)„. Diese marxistische Begründung, wie sie uns aus dem 19. Jahrhundert überliefert wurde, ist nach Auffassung Dörres auch heute nicht falsch, aber sie reicht nicht mehr aus. Das liegt nicht allein an den unterschiedlichen politischen Strömungen und Konzepten, die sich in der Arbeiterbewegung bekämpften, sondern viel mehr noch an der Ausdifferenzierung der kapitalistischen Ökonomie, der bürgerlichen Klassengesellschaft und ihrer Politikformen, wie sie sich seit den Anfängen des Kapitalismus entwickelten. Was das für die Gegenwart heißt, soll im Folgenden anhand einiger vom Autor verwendeten Begriffe deutlich gemacht werden.

  1. Ökonomisch-ökologische Zangenkrise: Dörre fordert eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Produktivkraftoptimismus“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Er sei historisch nachvollziehbar, aber in dem heutigen Zustand der Weltökonomie und -ökologie „fahrlässig„. Dabei sei das Werk von Marx und Engels keineswegs so eindeutig „produktivistisch“ zu interpretieren. Keinesfalls seien sie einer „naiven Technikgläubigkeit“ erlegen, sondern hätten darauf verwiesen, dass das Kapital seine Produktivkraft nur entfalten könne, indem es „die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter„(MEW 23, S. 529). Hieraus entwickelt Dörre für die heutige Lage einen seiner Leitbegriffe: die ökonomisch-ökologische Zangenkrise. Sie entsteht unvermeidlich aus dem kapitalistischen Wachstumszwang, für den es viele Belegstellen bei Marx und Engels gibt („Die kapitalistische Produktionsweise kann nicht stabil bleiben, sie muss wachsen und sich ausdehnen oder sie muss sterben.“ Engels in einem späteren Vorwort zu „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“).
    Die ökonomisch-ökologische Zangenkrise definiert Dörre so: Einerseits geht es dem Kapital und auch weiten Teilen der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Kernländern besser, wenn die „Wirtschaft“ wächst; andererseits nehmen damit zugleich die ökologischen Gefahren in lebensbedrohlicher Weise zu. All das heißt freilich auch für Dörre nicht, dass der Kapitalismus gesetzmäßig an sein Ende komme; er muss aktiv beseitigt werden. Aber es bedeutet glasklar, dass eine ökologisch nachhaltige Wirtschaft im Kapitalismus (Stichwort: „grüner Kapitalismus“) nicht möglich ist. Forderungen der sozial-ökologischen Bewegungen wie etwa Fridays for Future, Students for Future etc. nach Einhaltung vereinbarter Klimaschutzziele oder ähnlichen Reformen bleiben solange illusorisch, wie sie als bloße Appelle an die Herrschenden vorgetragen und verstanden werden. Aber auch im Kapitalismus kann es notwendig sein und sich lohnen, um Reformen zu kämpfen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen verbessern und zur Entwicklung antikapitalistischen Bewusstseins beitragen.
    Nicht so sehr die Entstehung technisch-organisatorischer Produktivkräfte machten für Engels, so Dörre, den gesellschaftlichen Fortschritt seiner Zeit aus, sondern die damit unvermeidlich einhergehende Entstehung der Arbeiterklasse, „die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess als erste überhaupt in der Lage ist, die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft zu realisieren“ (S. 51).
  2. Nachhaltigkeit: Der nächste Sozialismus muss nach Dörre einer sein, der sich in Absetzung historischer Erfahrungen durch zwei Kernpunkte auszeichnet: Er muss wahrhaft demokratisch und ökologisch nachhaltig sein. In den frühindustrialisierten Ländern habe sich inzwischen ein „Postwachstums-Kapitalismus“ herausgebildet. Dessen Kennzeichen seien: 1. wachsende nationale (bzw. auf die EU bezogen: regionale) öffentliche Verschuldung, 2. bei sinkenden Wachstumsraten umso schärfere Profitorientierung, Konkurrenz, Konflikte um Ressourcen, Vermögenskonzentration, soziale Polarisierung; 3. ökologische Großgefahren (Klimawandel, Pandemie), die die gesellschaftlichen Klassen und Schichten unterschiedlich hart treffen; 4. „mehrdimensionale Verteilungskonflikte„, die zu Auseinandersetzungen auch jenseits von Klassengegensätzen führen, Beispiel Migration; 5. die Integration der lohnabhängigen Klassen durch relative Vorteile, insbesondere durch den Massenkonsum tiefpreisiger Waren und Dienstleistungen. Das alles gehe aber nur durch den Raubbau an Arbeitskraft und Natur, dessen Folgen auch in den kapitalistischen Kernländern spürbar seien.
    Sein Hauptargument für eine „ökosozialistische Option“ ist also: Der Kapitalismus ist zu einem „ökonomisch-überproduktiven„, einem „quasi-parasitären System“ geworden. „Die sozialen Kosten, die die Gesellschaften aufbringen müssen, um kapitalistische Produktionsweisen am Leben zu erhalten, werden immer größer. (S. 92)“ Diese Bedingungen seien ein Indiz, dass es möglich ist, Klassenkämpfe und soziale Bewegungen zu Bündnissen zusammenzubringen, die gegen die weitere kapitalistische Vergesellschaftung gerichtet sind.
  3. Sozialistische Handlungsfähigkeit: In der Entwicklung dieses Begriffs versucht Dörre, eine Perspektive zur schrittweisen Veränderung der Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft unter gegenwärtigen Bedingungen aufzuzeigen. Er bezieht sich hierbei auf den Hegemoniebegriff von Antonio Gramsci sowie auf das Sozialismusverständnis des 2019 verstorbenen amerikanischen Marxisten Eric Olin Wright, der sich intensiv mit Auswegen aus dem Kapitalismus beschäftigte. „Exakt dies, die umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen, ist der zentrale Inhalt eines Sozialismusverständnisses, das nach maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung strebt (S. 48).“ Was ist nun beim gegenwärtigen Stand der Bewegung und des Klassenbewusstseins damit anzufangen? Sozialist:innen, so Dörre, hätten keinen Grund, „sich einsam zu fühlen„. Es gebe genügend Anknüpfungspunkte und potenzielle Bündnispartner:innen in sozialen Bewegungen, in Parteien und politischen Spektren, auch solchen, die das „S-Wort (für Sozialismus)“ bewusst ablehnen, aber in ihren Anliegen und sozialen Forderungen gezwungen seien, sich mit der kapitalistischen Realität auseinanderzusetzen. Diese müssen freilich in der Praxis genau analysiert und ausgetestet werden, denn sonst reiche das Protestpotenzial womöglich bis hin zu „Querdenken“ und zur AfD.
    Die in Einzelheiten gehenden Vorstellungen von Dörre, einschließlich seiner relativierenden Kritik daran, können im Rahmen dieser Buchbesprechung nicht ausgeführt werden. Sie bieten Anregungen, die auch in konkreten Auseinandersetzungen Orientierung ermöglichen, um in praktischen Fragen vielleicht ein Stück weit Erfolg zu haben, Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern und Kräfteverhältnisse verschieben zu können. Hierzu gehören etwa die „Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN (Sustainable Development Goals, SDG)“ oder Reformvorstellungen sozial-ökologischer Transformation bis hin zu internationalen Vereinbarungen wie dem Pariser Klimaabkommen von 2015. „Sozialistische Handlungsfähigkeit entsteht demnach keineswegs aus der bloßen Ablehnung jeglicher Reform von oben. Vielmehr muss es darum gehen, von der Technikentwicklung bis hin zu Innovations- und Investitionsentscheidungen alles auf Nachhaltig zu prüfen und für demokratische Entscheidungsprozesse zu öffnen (S. 113).“ Das ändere freilich nichts daran, dass Illusionen in Markt und Staat bis hin zum „Grünen Kapitalismus“ zu kritisieren und abzulehnen seien. „Herstellung sozialistischer Handlungsfähigkeit“ bedeute „vor allem Bereitschaft zum Konflikt, auch auf Grundlage sachlich-fachlicher Kompetenz„.
    Zusammengefasst bedeutet sozialistische Handlungsfähigkeit also, in Auseinandersetzungen betrieblicher, tariflicher oder gesellschaftlicher Dimension den Klassenstandpunkt zu beziehen und voranzutreiben. Diesen Gedanken gilt es in der Linken wieder fruchtbar zu machen.

Praktische Beispiele

Im Folgenden verlasse ich die unmittelbare Buchbesprechung, um einen vorläufigen „Praxistest“ zu machen. Dörre hat offenbar nicht nur ein Buch (bzw. eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln zu dieser Thematik) geschrieben, sondern befindet sich im Austausch mit politischen Aktiven, die ebenfalls auf ihre Weise daran arbeiten.

Doch bleiben wir im ersten Beispiel noch im Buch selbst, in dem auf den Seiten 104 bis 107 die Problematik des Braunkohletagebaus am Beispiel der Lausitz beschrieben wird. Bekanntlich ist der Ausstieg aus der Kohlewirtschaft (die „Dekarbonisierung“) für 2038 („idealerweise“ 2030) bestimmt. Für die Lausitz sind das tief einschneidende Veränderungen. Dörre beschreibt, wie die Kohlewirtschaft für die heute 8000 im Braunkohletagebau Beschäftigten (zu Zeiten der DDR sogar das Zehnfache), die daran anschließende Energiewirtschaft und ihr gesamtes soziales Umfeld „noch immer eine lebenswerte Perspektive“ bedeutet: in der Region die höchsten Löhne, die besten Arbeits-, Ausbildungs- und Aufstiegsbedingungen, sie finanziert Vereine, sorgt für sozialen Zusammenhang und dafür, dass niemand wirklich weg will von der Lausitz. Demgegenüber stehen Klimaschützer mit ihren abstrakt vernünftigen Forderungen zum Kohleausstieg. „Derartige Spannungen finden sich innerhalb von Klassenfraktionen, die, sozial gesehen, ein Leben führen, das sich durch großen Abstand zu den Lebensstilen und dem Lebenskonsum herrschender Klassen auszeichnet (S. 105).“ Wie kommen diese Fraktionen zueinander? Stellt man einseitig die unmittelbaren Beschäftigungsinteressen in den Vordergrund, dann gelingt es ebenso wenig wie umgekehrt bei absoluter Vorrangigkeit des Kohleausstiegs. Wenn „Gemeinwohlbekundungen“ und „Realpolitik“ derart in Konflikt geraten, so Dörre, können die Nutznießer dieser Blockade womöglich rechtsextreme Kräfte sein (was durch Wahlergebnisse leicht zu belegen ist). Daher kommt es entscheidend darauf an, den Betroffenen und ihrem Umfeld Strukturveränderungen, sozialen Ausgleich und Alternativen zu bieten, die ihnen ein gutes, möglichst ein besseres Leben ermöglichen. Hier ist das Stichwort Konversion zu nennen, das man auch von früheren Debatten her kennt, z. B. Rüstungsindustrie oder Werften.

Klaus Dörre bleibt mit seinen Inhalten und Argumenten nicht im Wissenschaftsbetrieb, sondern bringt sie in die politische Diskussion ein. So berichtet er in seinem Buch einleitend von der Gründung der „Students for Future“ in einem „zum Bersten gefüllten Saal“ der Leipziger Universität, an der er teilnahm. Auf seine rhetorisch gemeinte Frage, „ob die klimapolitisch gebotene Nachhaltigkeitsrevolution innerhalb kapitalistischer Verhältnisse möglich sei“ (S. 7), habe die Zuhörerschaft mehrerer hundert Studierenden spontan mit „nein“ geantwortet und dem Vorschlag, große Konzerne wegen ihrer Blockadehaltung zu sozialisieren, applaudiert. In einer Vorstandssitzung der Partei DIE LINKE am 6. November zur Aufarbeitung der Wahlniederlage vom 26. September hielt er ein Referat mit dem Titel „Schicksalswahl: Alles muss anders werden, ändern soll sich wenig. Die Linke muss die Nachhaltigkeitsrevolution mit dem Sozialen verbinden.“ Die dort dargebotenen Inhalte müssen hier nicht wiederholt werden, sie entsprechen denen im Buch (s. Arbeiterstimme Nr. 214, Winter 2021, S. 18).

Es kommt entscheidend darauf an, soziale und ökologische Fragen zu verbinden, statt beide zu blockieren. Die Erderhitzung ist mit dem kapitalistischen Wachstumszwang nicht abzubremsen, aber das Gegensteuern darf nicht auf Kosten der arbeitenden und ärmeren Teile der Bevölkerung gehen. Zusammenarbeit zwischen klassenbewussten Linken, Gewerkschaften und Klimabewegten wie BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), Fridays for Future und deren Ablegern ist gefragt. Bereits 2019 erschien ein Positionspapier von IG Metall und BUND zur Mobilitätswende (wir wollen das an dieser Stelle als Beispiel anführen; für eine detaillierte Darstellung und Kritik, etwa der Elektromobilität, reicht der Raum nicht). Ein weiteres Beispiel war ein gemeinsamer Aktionstag „Fairwandel“ mit der IGBCE. Auch wenn die Gewerkschaften in diesen Projekten sich von der produktivistischen Logik, dem kapitalistischen Wachstumszwang (es geht eben um Investieren und Subventionieren) nicht zu lösen vermochten, sind damit doch zarte Anfänge von Bewusstseinswandel gesetzt. Sie treffen unter aufgeschlossenen Kolleg:innen und Betriebsaktivist:innen durchaus auf Verständnis.

Ein Beispiel für solche Zusammenarbeit auf Betriebsebene bietet das Bosch-Werk in München. Dort will seit einem Jahr die Geschäftsführung das Werk schließen und die Produktion nach Tschechien und Brasilien verlagern. Als Begründung dient die bevorstehende Umstellung vom Verbrenner zur Elektromobilität. Belegschaft, Betriebsrat und IG Metall wiesen diese Begründung zurück: „Klima und Arbeitsplätze müssen zusammengehen!„, „Werk erhalten, Produktion umstellen!„, „Wir werden kämpfen!„, „Gemeinsam gegen Entlassungen und Klimawandel!“ lauteten Parolen am Bosch-Solidaritätstag am 19. November und bei anderen Gelegenheiten. In Wahrheit, so der Betriebsratsvorsitzende Giuseppe Ciccone, wolle der Konzern nur seinen Profit steigern. Klimaschützer:innen von Fridays for Future, Antikapitalistisches Klimatreffen, Klassenkampf und Klimaschutz, DIDF-Jugend, Zukunft erkämpfen, Münchner Gewerkschaftslinke und anderen Gruppen sind auch dabei. Beschäftigte und Klimabewegte kämpfen gemeinsam.

Ein Beispiel für eine ganze Tarifrunde war die gemeinsame Kampagne von FfF und ver.di zur Tarifrunde im Öffentlichen Nahverkehr 2020 (die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat eine Broschüre dazu herausgegeben). Die zentralen Ziele, ein einheitlicher bundesweiter Manteltarifvertrag für den ÖPNV und durchgreifende Verbesserungen der Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, wurden zwar nicht erreicht. Aber die Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Klimabewegten und Streikenden in ca. 30 Städten waren eine wichtige Etappe in dieser Entwicklung. Es ging auch hier wieder darum, nicht die soziale und die ökologische Frage gegeneinander auszuspielen (schon gar nicht vom kapitalistischen, aber auch nicht vom rein gewerkschaftlichen Standpunkt aus), sondern die Gemeinsamkeiten zu suchen: Fridays for Future (FfF) haben Interesse an der Aufwertung des ÖPNV wegen Klimaschutz, Busfahrer:innen desgleichen wegen der Würdigung ihres Berufes, der Verbesserung ihrer Einkommen und Arbeitsbedingungen. Deshalb gingen FfF-Leute zu den Streikposten, um Kampfformen der Busfahrer:innen kennen zu lernen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sie zu unterstützen. Das gilt zwar vorläufig wohl nur für eine Minderheitsfraktion der FfF, aber immerhin. Die Erkenntnis bei den Beteiligten war wie bei Bosch: „Nur Arbeiter:innen können Klimaschutz herbeiführen.

Fazit

Bei diesem Buch, seinen Vorgängern und was da alles noch kommen mag, geht es ganz sicher nicht um die unmittelbare Stellung der Machtfrage („Sozialismus“), sondern um die Erneuerung der Perspektive: In zentralen Lebensfragen der Menschheit (Klimawandel, Pandemie etc.) genügt kein Reformismus mehr ( die Mehrheit der FfF beschränkt sich noch auf Appelle an die Herrschenden), sondern muss antikapitalistisches Bewusstsein her. Dafür muss man die Leute in praktischen Fragen ansprechen und fordern.

F/HU, 28.12.2021


Klaus Dörre, Die Utopie des Sozialismus – Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin 2021, 345 Seiten.
Anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Engels und für die Aktiven in der Klimabewegung unserer Zeit


Schließlich gehen wir davon aus, dass wir der Naturzerstörung nur ein Ende setzen können, wenn wir auch den Kapitalismus überwinden. Stellt sich nur die Frage: Wenn die größte globale Klimabewegung der Menschheitsgeschichte diese klassenpolitische Ausrichtung nicht mehrheitlich teilt – was dann? Rechts liegen lassen? Keine Eigentumsfrage, kein Klassenstandpunkt, kein Potenzial? … Welche praktischen Schritte und Allianzen braucht es, um organisierte Lohnabhängige mit ihrer Fähigkeit zum ökonomischen Streik als Bündnispartner der Klimabewegung hinzuzugewinnen?

(Mein Pronomen ist Busfahrerin“ – Die gemeinsame Kampagne von FfF und ver.di zur Tarifrunde im Öffentlichen Nahverkehr 2020, Seite 15, Broschüre)


Zur Geschichte der Sowjetunion

Unsere Auffassung zur Sowjetunion ergibt sich aus der Artikelserie „Weiße Flecken“ von 1988 bis 1990, in der wir die Zeit von 1921 (NEP-Periode) bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs dargestellt hatten. Mit den (über unsere Redaktionsadresse und in der Internetseite als Broschüre erhältlichen) „Weißen Flecken“ beteiligten wir uns seinerzeit an einer politischen Debatte, in der es um die Position zur damaligen Sowjetunion ging, die sich in der Auseinandersetzung um einen grundlegend neuen Kurs der sozialistischen Entwicklung befand (welcher dann jedoch – entgegen ursprünglichen Absichten – in einen Existenzkampf mündete).

In daran anschließenden Beiträgen aus jüngerer Zeit ging es um die Weiterentwicklung unter einer neuen Fragestellung, die den veränderten Verhältnissen angemessen ist: Warum hat die russische Arbeiterklasse den Sozialismus nicht verteidigt, und wo steht sie heute? Als Beiträge dieser Reihe sind folgende zu verstehen:

Im chronologischen Zeitablauf schließt sich daran der Artikel „Kapitalismus in Russland“ aus Arbeiterpolitik 4/2016 an. Eine historische Analyse der letzten Jahrzehnte der sowjetischen Geschichte ist für das Verständnis der Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland nur ein Weg, aber grundlegend, weil sie die Vorgeschichte des heutigen – kapitalistischen – Russlands darstellt. Für eine differenziertere Vorstellung von der Gegenwart der russischen Arbeiterklasse sind natürlich noch weitere, umfassendere Kenntnisse und Arbeiten erforderlich.

Zu China

Zu den Verhältnissen im heutigen China aus unserer Sicht informieren Artikel auf unserer Internetseite unter der Rubrik „Internationales“.

Zum sogenannten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Lateinamerika

Mit Begriff und Wirklichkeit des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ befassen sich zwei Artikel in Arbeiterpolitik Nr. 2/2019:


aus Arbeiterpolitik Nr. 1/2 2022

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